Gemeindeeigentum

Ortsgemeinde und Nachbarschaftseigentum

Die heutigen Ortsgemeinden verdanken ihre Existenz in der Regel der durch das Vorläufige Gemeindegesetz vom 10.07.1945 (VGemG vom 10.07.1945, StGBl 66/1945) erfolgten Wiedererrichtung auf der Grundlage des Reichsgemeindegesetzes 1862 und der dazu ergangenen Ausführungsgesetze: „Das Gesetz vom 05. März 1862, RGBl Nr 18 (Reichsgemeindegesetz), alle Gemeindeordnungen und Gemeindewahlordnungen sowie die sonstigen auf dem Gebiete der Gemeindeverfassung erlassenen Vorschriften (Gemeindestatute, Stadtrechte) werden in dem Umfange, in dem sie vor Einführung der Deutschen Gemeindeordnung in den österreichischen Ländern in Kraft gestanden sind, (…) wieder in Wirksamkeit gesetzt“. (Art 1 VGemG vom 10.07.1945, StGBl 66/1945) Damit wurde bei Errichtung der 2. Republik jene Rechtsgrundlage wiederhergestellt, zu der Pfaff vor rund 130 Jahren eine enorme Unklarheit betreffend die Abgrenzung des Gemeinschaftsgutes festgestellt hatte (Pfaff, JBl 1884, 185). Es erstaunt daher nicht, dass die Probleme des 19. Jahrhunderts in der Folge wiederauflebten.
Dies zeigen zwei Erkenntnisse, die nur knapp zehn Jahre auseinanderliegen, jedoch diametral entgegengesetzte Rechtsauffassungen zum Ausdruck bringen: Der Oberste Agrarsenat betonte 1958, dass die historischen Realgemeinden, gleichgültig unter welchem Namen sie in den Urkunden aufscheinen, auch nach Entstehung der politischen Gemeinde nicht zu bestehen aufgehört hätten und deshalb Eigentümer der gemeinschaftlich genutzten Liegenschaften blieben. (Oberster Agrarsenat 06.10.1958, 245-OAS/58)
Der VfGH hingegen stellte sich im Jahr 1968 auf den Standpunkt, dass die „frühere Realgemeinde“ verschiedene Lasten zu tragen hatte, die die heutige politische Ortsgemeinde übernommen hätte. Die Ortsgemeinden hätten deshalb im Allgemeinen das Eigentum an den gemeinschaftlich genutzten Liegenschaften beansprucht, das ihnen bei der Grundbuchsanlegung zugestanden worden sei. Unterstellt wurde offensichtlich ein Eigentumstitel ex lege – quasi als Annex zu den gesetzlichen Gemeindekompetenzen. (VfSlg 5666/1968)

„Quasi-Erbschaft“ der Ortsgemeinde?

Vorstellungen von einer Art Kontinuität zwischen den historischen Nachbarschaften („Realgemeinden“) und den modernen politischen Ortsgemeinden tauchten in der Literatur immer wieder auf. (Vgl Cizek, Der Streit um die Gemeindegründe (1979); Pairhuber, Über Classenvermögen in den Gemeinden und Gemeindevermögen, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung 1880, Nr 21; Misera, Gemeindegut und Gemeindekommunitäten, JBl 1897, 243 ff; Schiff, Österreichs Agrarpolitik seit der Grundentlastung (1898) 202 ff; Morscher, Gemeinnutzungsrechte am Gemeindegut, ZfV 1982, 1 (5); vgl auch VfGH im Einleitungsbeschluss zum Gesetzesprüfungsverfahren Slg 9336/1982)
Teils wurde tatsächlich ein Kontinuitätsverhältnis behauptet, wonach sich die Nachbarschaften („Realgemeinden“, „Realgenossenschaften“ usw) zur modernen Ortsgemeinde oder zu Teilorganisationen derselben („Ortschaften“, „Fraktionen“ usw) fortentwickelt bzw sich in diese „gewandelt“ hätten (vgl etwa Lang, Die Teilwaldrechte in Tirol (1978) 58 ff, unter Berufung auf eine Entscheidung des Obersten Agrarsenates (02.03.1966, 43-OAS/66); Ausdrücklich in diesem Sinn jüngst Eccher, Das agrargemeinschaftliche Gemeindeeigentum in Tirol, in FS Barta (2009) 211, 213); teils wurde eine Rechtsnachfolge angenommen. (Pairhuber, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung 1880, Nr 21; Misera, JBl 1897, 243 ff; Schiff, Österreichs Agrarpolitik seit der Grundentlastung 202 ff; Morscher, ZfV 1982, 5) Beide Auffassungen laufen auf dasselbe Ergebnis hinaus: Eigentümerin des historischen Nachbarschaftsvermögens wäre heute die jeweilige Ortsgemeinde.

Die Vertreter dieser Auffassung können freilich keine Rechtsgrundlage für einen solchen Vermögensübergang angeben. (Vgl schon: Mayer, Politische Ortsgemeinde versus Realgemeinde, in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 187 ff) Schon Albert Mair stellte dazu fest, dass die Einverleibung des agrargemeinschaftlichen Realgemeindebesitzes in die politischen Gemeinden hauptsächlich mit dem Argument einer angeblichen [!] gesetzlichen Universalsukzession erfolgt sei. (Mair in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 22f) Tatsächlich zeigen aber gerade die gelegentlich begegnenden Vergleiche mit dem Erbrecht die Grenzen einer solchen Sukzessionshypothese auf. So spricht der Bericht des niederösterreichischen Landesausschusses von einem juristisch fragwürdigen „Erbfall ohne Verstorbenen“: „Die ‚Gemeinde‘ erschien in allen Urkunden als Eigenthümerin und so beerbte die moderne Gemeinde ihre Mutter, die Nachbarschaft, ohne daß letztere gestorben wäre“! (Bericht des NÖ Landesausschusses, XXVII BlgLT (Nö) V. GP 8) Wohl deshalb hat die Tiroler Landesregierung Anfang der 1980er Jahre in einer Stellungnahme den geradezu kuriosen Rechtstitel einer „Quasi-Erbschaft“ postuliert, der das angebliche Eigentum der Ortsgemeinde erklären sollte. (Stellungnahme der Tiroler Landesregierung im Gesetzesprüfungsverfahren G 35/81, G 36/81 und G 83/81, G 84/81, zitiert nach VfSlg 9336/1982 Punkt I Z 4 der Begründung; ausführlich dazu: Öhlinger in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 228)

Das Reichsgemeindegesetz 1862 und die dazu ergangenen Ausführungsgesetze hatten jedoch gerade keinen Übergang des Gemeinschaftseigentums auf die Ortsgemeinde vorgesehen; eine Rechtsgrundlage, welche die Existenzbeendigung der historischen Nachbarschaften und den Eigentumsübergang rechtfertigen könnte, ist nicht nachweisbar. Ganz im Gegenteil: Das private Gemeinschaftseigentum sollte durch die moderne Gemeindegesetzgebung ausdrücklich unberührt bleiben! (Ausführlich dazu Mayer in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 196 ff; Öhlinger in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 245 ff; Öhlinger/Oberhofer/Kohl in Kohl ea, Agrargemeinschaften Westösterreich 66ff) Schon § 26 des ProvGemG 1849, RGBl 170/1849, hatte eine derartige Regelung enthalten, die später von den Ausführungsgesetzen zum Reichsgemeindegesetz 1862 übernommen wurde: „Die privatrechtlichen Verhältnisse überhaupt und insbesondere die Eigenthums- und Nutzungsrechte ganzer Classen oder einzelner Glieder der Gemeinde bleiben ungeändert“ (§§ 11 bzw 12 der jeweiligen Gemeindeordnungen aus dem Zeitraum 1863 bis 1866; siehe dazu die Zusammenstellung der Ausführungsgesetze zum RGG 1862 in Das Gemeinde-Gesetz vom 5. März 1862 (MTA IX 1869).
§ 26 ProvGemG 1849 sowie § 11 bzw § 12 der Ausführungsgesetze zum Reichsgemeindegesetz 1862 verankerten somit eine gesetzliche Bestandsgarantie der Privatrechtsverhältnisse. Völlig zu Recht stellte daher das Reichsgericht 1871 fest, dass nicht von Gemeindegut der Ortsgemeinde, sondern von „Klassenvermögen gem §§ 11 resp 12 der Gemeindeordnungen“ auszugehen sei, wenn man „im Wege der privatrechtlichen Erwerbungsart […] Teilhaber an dem Besitz und Genuss“ eines Vermögens werden könne. (k.k. Reichsgericht 29.04.1871, Z 54 Entscheidungssammlung 1871/14)

Das Vermögen der historischen Nachbarschaften („Realgemeinden“, „Realgenossenschaften“ usw) ist also nicht ex lege zum Eigentum der modernen Ortsgemeinde geworden. (Pernthaler, ZfV 2010, 376; Mayer in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 196 ff; Öhlinger in Kohl ea, Agrargemeinschaften Tirol 243 ff; Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verwaltungsrechts II5 108; vgl schon: S, Über Realgenossenschaften in Österreich, Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit, 1886, Nr 46ff) Gerade deshalb schuf der historische Flurverfassungsgesetzgeber mit dem TRRG 1883 die notwendigen Rechtsgrundlagen für die sogegnannten „agrarischen Operationen“: Das Eigentum der historischen Nachbarschaften sollte zweckentsprechend verwaltet oder in einem geordneten Verfahren unter die mitberechtigten Nachbarn („Teilgenossen“) aufgeteilt werden, wobei aus rechtspolitisch-pragmatischen Überlegungen auch der jeweiligen Ortsgemeinde ein Anteil am Gemeinschaftsvermögen zufallen sollte. (43 BlgHH IX. Session. Erläuterungen zum Gesetzesentwurf für ein Teilungs- und Regulierungs-Reichsgesetz 33: „Die Bestimmung des § 1 Z 2 des Entwurfes haben die Grundstücke zum Gegenstande, welche als Gemeindegut oder Gemeingut jener Körperschaften oder Klassen benützt werden, die sich als Überreste der alten Agrargemeinde innerhalb der modernen politischen Gemeinde erhalten haben“; aus heutiger Sicht würde man von einer „Reorganisationsabgabe“ sprechen; ausführlich dazu: Kühne/Oberhofer in Kohl ea, Agrargemeinschaften Westösterreich 237ff)

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aus:
Kohl/Oberhofer/Pernthaler,
Gemeindeeigentum und Agrargemeinschaft, JBl 2014, 425ff

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MP