Wie es kam,
dass die Tiroler
enteignet wurden

Enteignet durch das Land Tirol
Enteignet durch das Land Tirol.
Enteignet wegen Verwechslung und Inkompetenz.

Die Agrargemeinschaft, das unbekannt Wesen – so kann man die juristisch-wissenschaftliche Beurteilung der agrarischen Gemeinschaften am Besten zusammenfassen.

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Ein Bericht des Niederösterreichischen Landesausschusses vom 21. September 1878, veranlasst durch eine Petition zweier niederösterreichischer Gemeinden, legt die gesamte Problematik des „Gemeindegutes“ in bis heute unübertroffener Weise offen:

Ist diese moderne Gemeinde, dieser Mikrokosmos des Staates, diese juristische Person aber noch dasselbe wie die alte Dorfmark mit ihrer Wirtschaftsgenossenschaft? Gewiss nicht, der territoriale Umfang und der Name ist derselbe geblieben, die Sache, der Begriff haben sich völlig geändert. Im Kataster aber und im Grundbuch steht noch der Name ‚Gemeinde’; wer ist nun das Rechtssubjekt bezüglich der dort eingetragenen Gemeindegründe?

Die alte Organisation der Nachbarschaft ist zertrümmert. Zu einer Zeit entstanden, da Privatrecht und öffentliches Recht nicht so begrifflich geschieden waren wie heute, verlor sie im modernen Staate den öffentlichen Charakter, ohne dass man daran dachte, ihre genossenschaftliche Organisation in bezug auf ihre Privatrechte zu erhalten, da keine der römisch-rechtlichen Formen schlechtweg auf sie anwendbar war. Die ‚Gemeinde’ erschien in allen Urkunden als Eigentümerin und so beerbte die moderne Gemeinde ihre Mutter, die Nachbarschaft, ohne dass Letztere gestorben wäre. Wenn man aber die Geschichte vergaß – die noch lebende Tatsache konnte man nicht ignorieren. Tatsächlich waren die Besitzer gewisser Häuser im Genusse oder im beschränkten oder unbeschränkten Mitgenusse gewisser Grundstücke. Man versuchte zuweilen, diesen faktischen Genuß aus dem Begriffe der Dienstbarkeit zu erklären. Das ist aber nicht nur historisch grundfalsch, sondern auch den tatsächlichen Zuständen nicht entsprechend.

Da man nun kein Schubfach fand, in welches man diese Rechtsverhältnisse stecken konnte, so ließ man sie einfach als weiter nicht definierbare Nutzungsrechte gelten. Ein Recht aber, durch welches ein scheinbar zweifelloses, auf Privat- und öffentliche Urkunden gegründetes Eigentum beschränkt wird, ein Recht, dessen Ursprung in Vergessenheit geraten, dessen Titel unauffindbar, dessen juristische Qualität undefinierbar, dessen Grenzen unsicher sind, ein solches Recht mußte den Verdacht der Usurpation erwecken, es mußte der rationalistischen Rechtsschule verdächtig und unbequem sein, den nicht berechtigten Gemeindemitgliedern als ein gehässiges Vorrecht erscheinen; das gute alte Recht der Nachbarn erschien als ein Raub an der Gemeinde, ihr Eigentum wurde als Diebstahl betrachtet, ein solcher Zustand mußte zum Kampfe herausfordern, und der Kampf begann auch wirklich…

Bericht des Niederösterreichischen Landesausschusses betreffend die Regelung der Besitz- und Nutzungsverhältnisse des Gemeindeeigentums vom 21. September 1878, XXVII der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des niederösterreichischen Landtages, 5. Wahlperiode, Seite 8

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Tirol hat sich dabei besonders im negativen Sinn hervorgetan.
Statt die historische Wahrheit zu erforschen, hat man Legenden verbreitet (Legende von der Schenkung an die politischen Ortsgemeinden); anstatt scharfer juristischer Analyse und Schlussfolgerung wird ein verbales Verwirrspielen und Rabulistik betrieben (2006: Umstieg auf das Märchen vom Gemeindegut);
statt der notwendigen Differenzierung zwischen Servitutenablösung, Eigentumspurifizierung (die Maßnahmen für Nordtirol) und Waldzuweisung (die Maßnahme in Süd- und Osttirol), wird die Falschbehauptung verbreitet, in Nordtirol hätte eine „Waldzuweisung an die politische Gemeinde“ stattgefunden (Falschdarstellung der Forstregulierung 1847).

Die Tiroler Agrarier werden enteignet, weil der Volkszorn das angeblich verlangt (mehr dazu). Tatsächlich hat eine Clique von Hofräten der Landesregierung die Fäden gezogen – angeführt von Hermann Arnold, ehemals Landesamtsdirektor (mehr dazu). Freilich haben sich die Agrarier und ihre Standesvertreter bisher außer Stande gesehen, die historischen Fakten offenzulegen und die Legitimität des Gemeinschaftseigentums der Hofbesitzer nachzuweisen – nachzuweisen und nach außen glaubwürdig zu vertreten. (Versagen des Bauernbundes)

Begonnen hat die Missäre des Tiroler Gemeinschaftseigentums damit, dass die Einführung des modernen Grundbuchs in Tirol über mehr als fünfzig Jahre lang verschleppt wurde. (mehr dazu) Das war die Zeit, in der sich die moderne Ortsgemeinde als Verwaltungsorganisation für die Gemeinschaftsliegenschaften durchsetzen konnte. (mehr dazu)

Bedauerlicher Weise hat der Tiroler Bauernstand die sinnvollen Vorbereitungen auf die Grundbuchanlegung unterlassen. So kam es, dass ein verarmter Adeliger aus dem Richterstand, Stephan Ritter von Falser, mit seinem 1896 veröffentlichten Büchlein Wald und Weide im Tirolischen Grundbuch“ den Takt vorgegeben hat. (mehr dazu)

Stephan von Falser hat die Tiroler Forstregulierung von 1847 kurzerhand umgedeutet in eine kaiserliche Schenkung an die moderne Tiroler Ortsgemeinde. (Falschdarstellung der Tiroler Forstregulierung) Weil Stephan von Falser nicht nur Autor, sondern auch noch ein einflusreicher Richter am Oberlandesgericht Innsbruck war, war es um das Eigentum der Tiroler Nachbarschaften über Nacht ganz schlecht bestellt. Über Nacht war die Verwaltungstätigkeit der Ortsgemeinden durch einen Eigentumstitel legitimiert: Eine kaiserliche Schenkung hätte den politischen Ortsgemeinden im Jahr 1847 Eigentum an den Bauernwäldern und an den Almen verschafft! (mehr dazu)

Munter und ungehindert haben deshalb die Tiroler Grundbuchjuristen hunderte Nachbarschaftsliegenschaften als „Gemeindeeigentum“ erfasst (mehr dazu). Ausnahmen im Grundbuch Außer- und Innervilgraten und in Untertillach bestätigen die Regel (mehr dazu). Nur beim Teilwaldeigentum, das laut Stephan von Falser als eine  Gemeindgutsnutzung im Grundbuch nicht erfasst werden sollte,  setzten sich die Bauern durch – Josef Schraffl sei Dank! (mehr dazu)

Letztlich ist es Dr. Albert Mair zu verdanken, dass bei der Tiroler Agrarbehörde die Unrichtigkeit der „Schenkungstheorie“ bekannt gemacht wurde. Im entscheidenen  Zeitraum, Anfang der 1980er Jahre, als Karl Spielbüchler sich daran machte, die Flurverfassung zu zerschlagen (mehr dazu), war Albert Mair jedoch bereits zur Landes-Hypothekenbank abgewandert. Die inkompetenten Stellungnahmen der Tiroler Landesregierung im Gesetzesprüfungsverfahren VfSlg 9336/1982, sind maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass das Gemeindegut in Tirol – entgegen der historischen Wahrheit (mehr dazu) – als Gemeindeeigentum hingestellt werden konnte. (mehr dazu)

Einflussreiche  Mitglieder der juristisch ausgebildeten Tiroler Beamtenschaft haben nach dem Abgang von Alt-LH Eduard Wallnöfer die „Rekommunalisierung der Agrargemeinschaften“ offenkundig geplant und vorangetrieben ! (mehr dazu)

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Die Agrargemeinschaft als unbekanntes Wesen

„Durch viele Jahrzehnte sind die ‚Agrargemeinschaften’  von Gesetzgebung und Rechtssprechung in Österreich so stiefmütterlich behandelt worden, daß es notwendig sein dürfte, eine Erklärung über ihr Wesen an die Spitze dieser Erörterung zu stellen. Wenn wir dabei von allen Fragen der rechtlichen Konstruktion, von allem Strittigen gänzlich absehen, können wir von ‚Agrargemeinschaften’ zum mindesten immer dann sprechen, wenn eine landwirtschaftliche Liegenschaft im Eigentum einer Mehrheit von Personen steht und den Wirtschaftsbetrieben aller dieser Personen dient, ohne die Grundlage eines ganz selbständigen Wirtschaftsbetriebes zu sein. Der praktisch wohl bedeutsamste Fall ist die Alpe, auf welche alle anteilberechtigten Bauern ihr Vieh treiben.
Ohne zunächst auf die Frage der gesetzlichen Zulässigkeit einzugehen, muss doch schon hier betont werden, daß das praktische Rechtsleben immer und immer wieder versucht hat, bei diesen ‚Agrargemeinschaften’ Sätze zur Geltung zu bringen, welche der sonstigen Regelung des Miteigentums und der Gesellschaft im bürgerlichen Recht und insbesondere dem Grundbuchsrecht (wenigstens in seiner landläufigen Auslegung) widersprechen. Wiederholt haben sich die Teilhaber an einer solchen Gemeinschaft dem – übrigens nur selten vorgekommenen – Versuche eines unter ihnen, das Verhältnis durch die actio communi dividundo zur Auflösung zu bringen, widersetzt. Sehr häufig ist das ‚Miteigentum’ realrechtlich gebunden, grundbücherlich an das Eigentum bestimmter Realitäten, der ‚Rücksitze’, geknüpft. Ja, es begegnet die Strömung, eine Loslösung von diesen Stammrealitäten überhaupt nicht zuzulassen. Und in nicht ganz seltenen Fällen finden wir eine Eintragung des ‚Miteigentums’ entgegen der angeblich zwingenden Vorschrift des § 10 BGG, nicht nach Quoten, sondern nach anders bestimmten Anteilen oder auch ohne jede solche Bestimmung. Schließlich gibt es merkwürdige Bildungen, bei denen kraft uralter Gewohnheit die Eigentümer der Stammrealitäten in dieser Eigenschaft die Träger öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen, z.B. der Wegerhaltung, oder anderseits besonderer Individualrechte, z.B. eines Erbbegräbnisses oder eines Kirchensitzes, sind.
Die Gründe, welche durch lange Zeit die Aufmerksamkeit von diesen gewiss nicht uninteressanten Gestaltungen abgelenkt haben, sind mannigfach. Zunächst fehlte dem nur romanistisch gebildeten Juristen der Blick für diese ursprünglichen Triebe bodenständigen deutschen Rechtes. Dann aber suchte die Flutwelle des wirtschaftlichen Liberalismus auch hier, wie anderwärts, alle aus der Vergangenheit stammenden Bindungen zu beseitigen, und den Gemeinteilungsgesetzen fiel neben manchen durch eine naturnotwendige Entwicklung Überlebten eine große Zahl lebensfähiger Gemeinschaften – einem Schlagwort zuliebe – zum Opfer. Schließlich mag auch der Blick der Juristen überhaupt einseitig auf städtische Verhältnisse gerichtet gewesen sein, sodass man von der Zahl und Bedeutung der Agrargemeinschaften im bäuerlichen Leben keine rechte Vorstellung hatte und sie höchstens als ‚Anomalie’ betrachtete.“
(Hugelmann, Die Theorie der „Agrargemeinschaften“ im österreichischen bürgerlichen Recht, Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich, 1916, 126 ff) Diese Worte von Karl Gottfried Hugelmann, mit denen er 1916 seine Abhandlung „Die Theorie der ‚Agrargemeinschaften’ im österreichischen Recht“ einleitete, erklären Vieles von dem, was Anlass zur vorliegenden Publikation gegeben hat.

Ähnliche Überlegungen enthielt schon rund vier Jahrzehnte zuvor ein Bericht des Niederösterreichischen Landesausschusses vom 21. September 1878, veranlasst durch eine Petition zweier niederösterreichischer Gemeinden: „Ist diese moderne Gemeinde, dieser Mikrokosmos des Staates, diese juristische Person aber noch dasselbe wie die alte Dorfmark mit ihrer Wirtschaftsgenossenschaft? Gewiss nicht, der territoriale Umfang und der Name ist derselbe geblieben, die Sache, der Begriff haben sich völlig geändert. Im Kataster aber und im Grundbuch steht noch der Name ‚Gemeinde’; wer ist nun das Rechtssubjekt bezüglich der dort eingetragenen Gemeindegründe? Die alte Organisation der Nachbarschaft ist zertrümmert. Zu einer Zeit entstanden, da Privatrecht und öffentliches Recht nicht so begrifflich geschieden waren wie heute, verlor sie im modernen Staate den öffentlichen Charakter, ohne dass man daran dachte, ihre genossenschaftliche Organisation in bezug auf ihre Privatrechte zu erhalten, da keine der römisch-rechtlichen Formen schlechtweg auf sie anwendbar war. Die ‚Gemeinde’ erschien in allen Urkunden als Eigentümerin und so beerbte die moderne Gemeinde ihre Mutter, die Nachbarschaft, ohne dass Letztere gestorben wäre. Wenn man aber die Geschichte vergaß – die noch lebende Tatsache konnte man nicht ignorieren. Tatsächlich waren die Besitzer gewisser Häuser im Genusse oder im beschränkten oder unbeschränkten Mitgenusse gewisser Grundstücke. Man versuchte zuweilen, diesen faktischen Genuß aus dem Begriffe der Dienstbarkeit zu erklären. Das ist aber nicht nur historisch grundfalsch, sondern auch den tatsächlichen Zuständen nicht entsprechend. Da man nun kein Schubfach fand, in welches man diese Rechtsverhältnisse stecken konnte, so ließ man sie einfach als weiter nicht definierbare Nutzungsrechte gelten. Ein Recht aber, durch welches ein scheinbar zweifelloses, auf Privat- und öffentliche Urkunden gegründetes Eigentum beschränkt wird, ein Recht, dessen Ursprung in Vergessenheit geraten, dessen Titel unauffindbar, dessen juristische Qualität undefinierbar, dessen Grenzen unsicher sind, ein solches Recht mußte den Verdacht der Usurpation erwecken, es mußte der rationalistischen Rechtsschule verdächtig und unbequem sein, den nicht berechtigten Gemeindemitgliedern als ein gehässiges Vorrecht erscheinen; das gute alte Recht der Nachbarn erschien als ein Raub an der Gemeinde, ihr Eigentum wurde als Diebstahl betrachtet, ein solcher Zustand mußte zum Kampfe herausfordern, und der Kampf begann auch wirklich…“
(Bericht des Niederösterreichischen Landesausschusses betreffend die Regelung der Besitz- und Nutzungsverhältnisse des Gemeindeeigentums vom 21. September 1878, XXVII der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des niederösterreichischen Landtages, 5. Wahlperiode, Seite 8)

„Neben dieser Entwicklung, mit welcher sich der Bericht [des Niederösterreichischen Landesausschusses] vorwiegend befaßt und welcher er eine abschließende gesetzliche Regelung angedeihen lassen will, ist noch eine andere möglich und auch wirklich vorgekommen: daß nämlich die alten ‚Nachbarn’ ihr ausschließliches Recht am ‚Gemeindenutzen’ im alten Sinne behaupteten, dass die alte Gemeinde von der neuen überhaupt nicht beerbt wird, daß das alte Genossenrecht als reines Privatrecht fortlebt, welches aber eben in Folge seiner Herkunft von den römisch-rechtlichen Kategorien abweicht. Gerade diese Bildungen aber sind es, welche gegenüber den Formen des Gemeindegutes Agrargemeinschaften privatrechtlichen Charakters darstellen“. Diese Zeilen Hugelmanns zum Bericht des niederösterreichischen Landesausschusses von 1878 nehmen vieles vorweg, was in den Beiträgen dieses Bandes insbesondere für den historischen Rechtsraum des heutigen Nordtirol, die seinerzeitigen Kreise „Oberinntal einschließlich des Lechtals“ und „Unterinntal einschließlich des Wipptals“ untersucht wird.

Tirol beweist besondere Ignoranz!

„Tirol ist anders.“ Der bekannte Slogan der Tiroler Fremdenverkehrswirtschaft gilt gerade auch im Zusammenhang mit juristisch-historischen Phänomenen. „Vielleicht in keinem Kronlande Oesterreichs ist die Liebe zum Althergebrachten so ausgeprägt, wie in Tirol“, so wohlwollend formulierte dies der Innsbrucker Oberlandesgerichtspräsident Alois von Mages 1883. (Mages, Die Güterzerstückungs-Vorschriften für Tirol, Innsbruck 1883, 3) Rechtshistorische Probleme sind daher in Tirol teils länger, teils später von Bedeutung als in anderen Ländern: Den Kampf um die Gemeinschaftsliegenschaften der Nachbarn vollziehen die Tiroler im 21. Jahrhundert, während er der Niederösterreichischen Landesregierung schon im Jahr 1878 (!) unter den Nägeln brannte. (Bericht des Niederösterreichischen Landesausschusses vom 21. September 1878, FN 2)

„Tirol ist anders“ – das gilt auch für den „Tiroler Weg“ im Umgang mit dem Phänomen des historischen Gemeinschaftsvermögens der alten Nachbarn, mit einer Rechtsposition, „dessen Ursprung in Vergessenheit geraten, dessen Titel unauffindbar, dessen juristische Qualität undefinierbar, dessen Grenzen unsicher sind“: Einer Wahlbewegung zur Landtagswahl 2008, die sich einem vermeintlichen Restitutionsanspruch der politischen Ortsgemeinden gegen die Agrargemeinschaften verschrieben hatte, ist es mit Unterstützung der Medien gelungen, eine Stimmung im Land zu schaffen, die sich jeden Verständnisses für historische Hintergründe entledigt hat. Die aktuellen Tiroler Verhältnisse unterscheiden sich deshalb grundlegend von denjenigen des Jahres 1878 in Niederösterreich, weil dem Tiroler Landesgesetzgeber heute das erforderliche historische Verständnis in mehrfacher Weise fehlt: für die Hintergründe des nachbarschaftlichen Gemeinschaftseigentums, für das Selbstverständnis der alten Nachbarschaften als privater Gemeindeverband, für die Umgestaltung des sozialen Siedlungsverbandes vom privatautonomen Verband zur politischen Ortsgemeinde, für die verbliebene Privatgemeinde der Nachbarn als Besitzgesellschaft, ohne in die Augen springende gesetzliche Grundlage zur Errichtung von Statuten und organschaftlichen Vertretung.

Gemeindeverwaltetes Gemeinschaftsvermögen

Beinahe zwangsläufig kam es dazu, dass viele Gemeinschaftsliegenschaften nach den Regeln verwaltet wurden, die vom politischen Gemeinderecht für Gemeindeeigentum vorgegeben waren. Konflikte resultierten daraus freilich nur in denjenigen Ländern der Monarchie, wo infolge demographischer, sozialer und rechtlicher Veränderungen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Anzahl neuer Gemeindeglieder entstand, die aber weiterhin von der Nutzung der „gemeinen Liegenschaften“ ausgeschlossen waren. Im historischen Tirol blieben die alten Gemeindeglieder hingegen noch Jahrzehnte unter sich. Für eine Unterscheidung von historischem Privatvermögen der alten Agrargemeinde und Gemeindevermögen der neuen politischen Ortsgemeinde bestand deshalb kein Anlaß. Noch 50 Jahre nach Errichtung der heutigen Ortsgemeinden unterschied man deshalb im Zuge der Grundbuchsanlegung das gemeinschaftliche Privateigentum und das Eigentum der politischen Ortsgemeinde vielfach nicht voneinander. Das Wissen um einen Gemeinschaftsverband nach privatem Recht konnte unter diesen Umständen oft abhandenkommen. Wo die Gemeinden sich aus Ortschaften zusammensetzten, deren Stammliegenschaftsbesitzer eigenes Gemeinschaftsvermögen besaßen, vermutete man „Fraktionsvermögen“. Zumindest dort jedoch, wo Stammliegenschaftsbesitzer aus mehreren politischen Ortsgemeinden Gemeinschaftsbesitz bewahrt hatten, bestand ein Konsens der Rechtsgenossen, dass der betreffende Eigentumsträger von diesen politischen Gemeinden zu unterscheiden sei. Die Liegenschaften der „Lehensassengenossenschaft Rattenberg und Radfeld“ (Ez 1 GB Radfeld) und die „Waldgemeinschaft Kappl-See“ (Ez 105, GB See) geben beredtes Beispiel.

Ein bilder und tauber Landesgesetzgeber

Entsprechendes rechtshistorisches Verständnis vorausgesetzt, wüsste der Landesgesetzgeber von diesen Umständen, von den aus dem Nebeneinander von alter Agrargemeinde und neuer politischer Ortsgemeinde entstandenen Unterscheidungsschwierigkeiten und der daraus erwachsenen Aufgabenstellung an die „Commassionsbehörden“, die späteren Agrarkommissariate. Der historische Gesetzgeber hatte diesen Behörden unter anderem die Aufgabe zugedacht, das alte Gemeinschaftsvermögen, welches nach den klaren Gesetzesvorgaben seinen Charakter als privates „Klassenvermögen“ erhalten hatte, vom Eigentum der politischen Ortsgemeinde zu trennen, die Nutzungsrechte daran zu ordnen und für nachhaltige Vertretungs- und Geschäftsführungsverhältnisse zu sorgen. Die fehlende Sachkunde des Landesgesetzgebers spiegelt sich im Gesetzesbeschluss vom 17. Dezember 2009 wider, als Novelle zum Tiroler Flurverfassungsrecht LGBl 7/2010 am 19. Februar 2010 in Kraft getreten: Jedes historische Eigentum, welches irgendwann in der Geschichte einer „Gemeinde“ oder „Fraktion“ zugeordnet war, wird hier infolge einer unhistorisch isolierten Wortinterpretation in überschießender Weise als Eigentum der politischen Ortsgemeinde definiert, so als hätte es die bald 900jährige Geschichte der Tiroler Agrargemeinden nie gegeben. Dass der Gemeindebegriff gerade in Tirol vieldeutig war, wissen nicht nur Historiker (Illustrativ Beimrohr, Die ländliche Gemeinde in Tirol aus rechtsgeschichtlicher Perspektive, Tiroler Heimat – Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde Nord-, Ost- und Südtirols Bd. 72, 2008, 161 ff ); 1917 stellte man zur Klärung eines konkreten Falles im Innenministerium Nachforschungen an und kam zu dem Ergebnis, „für die früheren Zeiten [könne] nur auf Grund spezieller Untersuchung jedes einzelnen Falles ein Urteil über das Verhältnis zweier Gemeinden gefällt werden. Steuergemeinde, Wirtschafts- und politische Gemeinde fallen in jener Zeit nicht immer zusammen, sondern stehen zu einander in verschiedenartig abgestuftem Verhältnisse.“ (AVA Wien, MdI, 14181/1917)

Freilich haben auch Missverständnisse der Tiroler Agrarjuristen dazu beigetragen, dass die Begriffe „Gemeinde“ bzw. „Fraktion“ vielfach zu Unrecht als Bezeichnung für die politische Ortsgemeinde bzw. deren politische Teilorganisation missverstanden wurden. Bis zu einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes von 1982 (VfSlg 9336) wurde dieser Mangel dadurch kompensiert, dass man das der politischen Ortsgemeinde oder der politischen Ortsfraktion zugeordnete, mit Nutzungsrechten zugunsten bestimmter Eigentümer von Stammliegenschaften belastete Vermögen, als nicht regulierte Agrargemeinschaft verstand. Die Stellung der politischen Ortsgemeinde wurde einer Treuhänder- und Vertretungsfunktion gleichgestellt, erlangt durch „Quasi-Erbschaft“, nicht zu Eigentum, sondern eben als „Agrargemeinschaft“. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs Slg 9336/1982 wird heute in Tirol so verstanden, dass „Quasi-Erbschaft“ zu wahrem Eigentum der politischen Ortsgemeinde geführt hätte; das Erkenntnis vom 11. Juni 2008 Slg 18.446/2008 ist die logische Konsequenz aus den erstinstanzlichen Feststellungen, welche von der Tiroler Agrarbehörde im Bescheid vom 9. November 2006 zum Fall der Agrargemeinschaft Mieders getroffen wurden. Ohne Widerspruch beim Landesagrarsenat als Berufungsbehörde hervorzurufen, hatte der erstinstanzliche Bescheid festgestellt, dass das Regulierungsgebiet der Agrargemeinschaft Mieders ursprünglich, d.h vor Eigentumsübertragung auf die Agrargemeinschaft Mieders, wahres Eigentum der politischen Ortsgemeinde gewesen sei. Zusätzlich wurde festgestellt, dass im historischen Regulierungsverfahren nicht die Substanz des Eigentums, sondern nur die Nutzungsmöglichkeit für Wald- und Weidewirtschaft in der Agrargemeinschaft reguliert werden sollte. Der Wille der historischen Agrarbehörde sei darauf gerichtet gewesen, die Rechtsposition der politischen Ortsgemeinde am Regulierungsgebiet zu bewahren; dies trotz förmlicher Übertragung des Eigentumsrechts. Nur in diesem Sinn könne die historische Eigentumsregulierung in der Agrargemeinschaft Mieders verstanden werden. (S den auf den Seiten 4–8 des Originalerkenntnisses VfGH Slg 18.446/2008 wiedergegebenen Sachverhalt) Einen anderen Sachverhalt hatte der Verfassungsgerichtshof nicht zur beurteilen.

Die Beiträge auf dieser homepage zur Geschichte und Dogmatik der Agrargemeinschaften zeigen, dass die Sachverhaltsgrundlagen für das Erkenntnis VfSlg 18.446/2008 „Mieders-Erkenntnis 2008“, für die Tiroler Verhältnisse untypisch sind. Es steht der Verdacht im Raum, dass es sich um einen Sachverhalt handelt, den der zuständige Beamte, Dr. Josef Guggenberger, erfunden hat: erfunden, um ein Verfassungsgerichtshof-Erkenntnis gegen die Tiroler Agrargemeinschaften zu provozieren! Die Enteignung der Tiroler Agrargemeinschaftsmitglieder, die der Tiroler Landesgesetzgeber seit 2008 mit missionarischem Eifer betreibt, ist damit auf Sand gebaut!

Max Paua
(unter Verwendung der Einleitung von Kohl/Oberhofer/Pernthaler, Die Agrargemeinschaften in Tirol, 1ff)

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