Martina Wibmer, Obfrau der Agrargemeinschaft Nachbarschaft Mellitz in Osttirol, muss nun schon das zweite Verwaltungsstrafverfahren über sich ergehen lassen. Vorgeworfen wird ihr die Verletzung ihrer Pflichten als Obfrau einer „atypischen Gemeindeguts-Agrargemeinschaft“. Solange das Landesverwaltungsgericht als Beschwerdeinstanz noch nicht entschieden hat, will Martina Wibmer das Gemeinschaftsgut jedoch nicht als Staatseigentum behandelt wissen.
Agrargemeinschaft Mellitz ist mit einer so genannten „Haller’schen Urkunde“ im Jahr 1943 reguliert worden. Verantwortlich zeichnete Dr. Wolfram Haller, Kärntner Agrarjurist und seinerzeitiger Vorstand der Agrarbehörde Villach. Dr. Haller war nach Osttirol beordert worden, weil ein aus Deutschland stammender, strammer NS-Parteigenosse als „Landrat“ die Enteignung aller Osttiroler Gemeinschaftsgüter betrieben hat. Streng nach dem Führerprinzip sollten alle autonomen Verwaltungen für die Gemeinschaftsalmen, -wälder und -weiden aufgelöst werden. Nur mehr die Bürgermeister sollten darüber verfügen.
Begründet wurde dieser radikale Eingriff mit der Einführung des NS-Gemeinderechts in Österreich im Oktober 1938. Die agrargemeinschaftlichen Strukturen wurden als Erscheinungen des politischen Gemeinderechts hingestellt und beseitigt. Die gesamte Verwaltung wurde vom Bürgermeister übernommen. Die Gemeinschaftskassen wurden für die Ortsgemeinden eingezogen. In diversen Gemeinden wurde sogar eine Eigentumsumschreibung im Grundbuch veranlasst. Entsprechend aufgebracht waren die Osttiroler Grundbesitzer.
Und nicht weniger aufgebracht ist Martina Wibmer, wenn sie heute dieselben Sprüche hört und dieselben Formulierungen liest, wie diese aus der NS-Zeit in Osttirol bekannt sind: Die Agrargemeinschaft sei eine Gemeindeorganisation. Das Eigentum stünde der Gemeinde zu; das Sagen hätte der Bürgermeister! Die Enteignung der Tiroler Bauern im 21. Jhdt ist eine Wiederholung dessen, was die NAZI den Stammsitzeigentümern schon einmal angetan haben.
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Bei der zuständigen Agrarbehörde Villach – Osttirol war während der Zeit der Naziherrschaft Teil des „Reichsgaus Kärnten“ – langten bittere Beschwerden ein. Dr. Wolfram Haller dazu in einem seiner zahlreichen Berichte: „Bitter wirkte sich die enge Verbundenheit der Agrargemeinschaften als Fraktionen mit der Gemeinde im Agrarbezirk Lienz aus […]. Ein aus dem Altreich gekommener Landrat, der mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertraut war, löste sofort alle Fraktionen auf Grund der Einführungsverordnung [zur Deutschen Gemeindeordnung 1935] auf und führte die Fraktionsgüter ins Vermögen der Gemeinden über. Dadurch entstand eine derartige Unruhe unter den Bauern, dass sogar das Reichssicherheitshauptamt in Berlin Erhebungen pflegen ließ. Eine Abordnung Tiroler Bauern unter Führung des vulgo Plauz in Nörsach kam zu mir nach Villach und bat dringend um Hilfe. Plauz erklärte, dass eher Blut fließen werde, als dass sich die Bauern ihre Rechte nehmen ließen.“
Dr. Wolfram Haller hat in der Folge alle Osttiroler Gemeinden bereist, er hat die Beteiligten vor Ort über die wahren Rechtsverhältnisse aufgeklärt und mit enormem Eifer und Geschick die agrarischen Operationen betrieben. Nicht zuletzt aufgrund eines großen Erfolges seiner Bemühungen wurde er durch einen Angehörigen der Reichsforstverwaltung beim Reichsforstmeister denunziert. In Konsequenz erging ein scharfer Erlass des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft, Berlin, an den Reichsstatthalter in Klagenfurt. Der Reichsstatthalter wurde angewiesen, die gegen nationalsozialistische Gesetze gerichteten „Umtriebe“ des Dr. Haller in Osttirol abzustellen. In einem sehr ausführlichen Bericht wies Dr. Wolfram Haller an Hand alter Urkunden nach, dass es sich bei den Osttiroler Fraktionen um Agrargemeinschaften handle, die schon vor Jahrhunderten als Nachbarschaften bestanden hätten. Als hervorragender Kenner des Agrarrechts konnte er dem Reichsminister darüber hinaus belegen, dass Agrargemeinschaften in jeder zukunftsorientierten Landwirtschaftspolitik ihren Platz haben. Der Reichsminister hat diesen Bericht mit Befriedigung aufgenommen und Dr. Haller wurde sogar eingeladen, für die vom Ministerium herausgegebene Zeitschrift „Agrarrecht“ einen Aufsatz zu schreiben. Dr. Haller schrieb zwar keinen Aufsatz für diese Zeitschrift; seither hatte er jedoch den Rücken frei und er konnte unbehelligt den Nazi-Umtrieben gegen die Gemeinschaftsgüter in Osttirol durch Regulierung und Teilung ein Ende setzen. Dr. Wolfram Haller hat in der Zeit von 1938 bis 1947 in Osttirol weit über hundert Agrargemeinschaften körperschaftlich eingerichtet und die Gemeinschaftsgüter reguliert.
Im Frühsommer 2012 hatte die Tiroler Landesregierung bei Univ.-Prof. Dr. Roman Sandgruber, Institut für Wirtschaftsgeschichte, Johannes Keper Universität Linz, ein Gutachten in Auftrag gegeben. Univ.-Prof. Dr. Sandgruber sollte die „Haller’schen Regulierungen“ in Osttirol untersuchen. Bar jeder Kenntnis der historischen Verhältnisse war aus Kreisen der damaligen Landtagsopposition der Vorwurf erhoben worden, die Regulierung von Agrargemeinschaften sei eine „Nazi-Methode“, um Staatsgüter verfassungswidrig den Mitgliedern des „Reichsnährstandes“ zuzuschanzen.
Martina Wibmer hat das veröffentlichte Gutachten von Roman Sandgruber genau gelesen. Schließlich ist ihre Agrargemeinschaft doch unmittelbar betroffen. Besonders die Zusammenfassung Professor Sandgrubers möchte sie allen Interessierten in das Stammbuch schreiben. Wie Professor Sandgruber erhoben hat, hat es in Osttirol unter der Nazi-Herrschaft zuerst eine rechtswidrige Enteignung der Bauernschaft gegeben und in der Folge eine Wiedergutmachung. Dr. Wolfram Haller ist somit gegen die Unrechtsmaßnahmen der Nazi-Bonzen eingeschritten; die Regulierungen und Teilungen waren aus heutiger Sicht rechtens. „Bei diesem Ergebnis habe ich mir natürlich erwartet, dass auch bei Agrargemeinschaft Mellitz festgestellt wird, dass kein atypisches Gemeindegut vorliegt“, so Martina Wibmer weiter. Es kam freilich anders: Mit Bescheid vom 5. März 2013 hat die Agrarbehörde I. Instanz entschieden habe, dass das Gemeinschaftsvermögen der Mellitzer Bauern ehemaliges Eigentum der Fraktion Mellitz der Ortsgemeinde Virgen gewesen sei. Die Ortsfraktionen seien in der Zeit des Nationalsozialismus aufgelöst worden; ihre Rechtsnachfolgerin wäre die Ortsgemeinde Virgen. Im Jahr 1943, als Dr. Wolfram Haller entschieden hätte, dass das Gemeinschaftsgut Eigentum der Agrargemeinschaft Mellitz sei, hätte demnach wahres Eigentum der Ortsgemeinde Virgen vorgelegen. Die Entscheidung des Dr. Wolfram Haller für ein Eigentum der Agrargemeinschaft Mellitz sei offenkundig verfassungswidrig gewesen.
Obwohl die Agrargemeinschaft und die Mitglieder gegen dieses Erkenntnis der Agrarbehörde I. Instanz Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht erhoben haben, verlangt die Agrarbehörde von Martina Wibmer, dass diese jetzt und sofort das Gesetz für eine atypische Gemeindeguts-Agrargemeinschaft anwendet. Für Martina Wibmer kommt das nicht in Frage. Die streitbare Obfrau: „Es ist schon eigenartig. 1938 haben Bürgermeister unter dem Nazi-Regime die Osttiroler Bauern enteignet. Die damalige Gauleitung in Klagenfurt schickt einen Spezialisten, den Dr. Wolfram Haller. Dieser prüfte in jedem Einzelfall, ob Gemeindeeigentum vorliegt oder Bauerneigentum. Bei uns hat Dr. Haller Bauerneigentum festgestellt und er hat unseren Vorfahren 1943 ihr Gemeinschaftsgut zurückgegeben. 70 Jahre später will es die Agrarbehörde besser wissen und enteignet uns? Ich bin’s meinen Kindern und Kindeskindern schuldig, dass ich mich gegen solche Bescheide zur Wehr setze!“
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MP
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