Die Besiedelungsgeschichte Virgens geht auf die Zeit um 500 vor Christus zurück, wobei der Kupferbergbau eine tragende Rolle spielte. Nach dem Ende der Römerzeit siedelten sich Slawen im Virgental an, die ab dem 8. Jahrhundert nach und nach von bairischen Siedlern assimiliert wurden. Die gleichzeitig einsetzende Christianisierung führte zur Einrichtung einer der ersten Pfarren in der Region. Im Mittelalter war Virgen Teil Kärntens und der Grafschaft Görz, 1500 wurde es an Tirol angegliedert. Mit 2198 Einwohnern (Stand 1. Jänner 2016) ist Virgen heute die bevölkerungsmäßig fünftgrößte Gemeinde Osttirols. (aus: Wikipedia – Gemeinde Virgen) <br />
Landeshauptmann:
„Josef, ich höre es gerade vom Landesadler und von Attila: Der Walser und seine Leute in der Agrarbehörde zitieren jetzt sogar schon Nazigesetze, um zu begründen, warum ehemals ein Gemeindeeigentum bestanden haben soll. Will der Walser wirklich die Ortsgemeinden als die Erben der NAZI bloßstellen? Das muss aufhören!“
Als der Tiroler Landesfürst im Jahr 1847 landesfürstliche Hoheitsrecht an den Wäldern und Almen aufgegeben hat, wurden die „berechtigten Gemeinden“ Volleigentümer. Wörtlich formuliert das Gesetz, dass die Wälder „den bisher zum Holzbezuge berechtigten oder mit Gnadenholzbezügen beteilten Gemeinden als solchen, in das volle Eigentum“ überlassen werden. Volleigentümer wurden jene Gruppen von Personen, welche berechtigt waren, in den betreffenden Forstgebieten bis zu diesem Zeitpunkt das Holz zu nutzen (Art 6 Tiroler Forstregulierungspatent 1847). Entsprechend der gesetzlichen Vorgabe konnten nur die jeweiligen „Nutzungseigentümer“, das heißt jene Personengruppen das Volleigentum erwerben, welche in den betreffenden Wäldern möglicherweise über Jahrhunderte Rechte zum Holzbezug ausgeübt haben.
In der Katastralgemeinde Virgen wurden diese „Gruppen von Nutzungsberechtigten“ – sprich Agrargemeinschaften im Sinne des heutigen Verständnisses, bei der Grundbuchanlegung unter anderem mit folgenden Bezeichnungen erfasst: „Gemeinde Virgen“, Göriach Fraktion der Gemeinde Virgen, Mellitz Fraktion der Gemeinde Virgen, Mitteldorf Fraktion der Gemeinde Virgen, Niedermauern Fraktion der Gemeinde Virgen, Obermauern Fraktion der Gemeinde Virgen, Virgen Dorf Fraktion der Gemeinde Virgen, Welzelach Fraktion der Gemeinde Virgen, Zedlach Fraktion der Gemeinde Windisch Matrei Land sowie als „Alpengenossenschaft Virgen-Mellitz bestehend aus a) der Fraktion Virgen-Dorf der Gemeinde Virgen, b) der Fraktion Mellitz der Gemeinde Virgen c) dem jeweiligen Eigentümer des Reiterhofes Einl.Zl 31 I dieses Grundbnuches“ und der Mullitz-Alpengenossenschaft bestehend aus den Fraktionen der Gemeinde Virgen a) Niedermauern, b) Welzelach“. <br />
Offensichtlich ist, dass in der KG Virgen bei der Grundbuchanlegung im Jahr 1905 unter der Bezeichnung „Fraktionen“ Rechtsträger in das Grundbuch einverleibt wurde, die entsprechend dem seither entwickelten Rechtsverständnis nur Agrargemeinschaften sein können. Diese haben entsprechend dem jeweiligen historischen Selbstverständnis der Nachbarschaften über viele Jahrhunderte zahlreiche Aufgaben wahrgenommen, die wir heute dem öffentlichen Bereich zuordnen wie lokale Sicherheitspolizei, Wegebau und –erhaltung, Anstellung des Lehrers und Schulhalterei usw.
VIRGEN-DORF: NS-ENTEIGNUNG 2.0
Übersicht:
I. Ausgangslage Osttirol
Agrargemeinschaften oder Gemeindeteile
Wolfram Haller – Jurist mit Herz und Hirn
Fraktionengesetz statt Regulierung
NS-Gemeinderecht trifft „Fraktionen“
Wolfram Haller soll es richten
Roman Sandgruber zu Haller & Osttirol
II. Feststellung der Eigentümer
NS-Enteignung zur Zweiten
III. Die Enteignung
Enteignungsgesetz LGBl Nr 70/2014
Enteignung wie zur NS-Zeit?
I. AUSGANGSLAGE OSTTIROL
Die Agrarbehörde als gesetzliche Richterin für das Eigentum an Gemeindegut hat in den 1940er Jahren die Eigentumsverhältnisse an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken in diversen Osttiroler Gemeinden genauestens überprüft.
Anlass waren widerwärtige Enteignungsmaßnahmen, welche die neu eingesetzten NS-Bürgermeister samt einem aus dem „Altreich“ stammenden Landrat (entspricht heute dem Bezirkshauptmann) verfügt hatten. Die Argumentation, die die NS-Bürgermeister angewandt haben, deckt sich erschreckender Weise mit der Argumentation, wie man diese heute in den Enteignungsbescheiden der Agrarbehörde liest!
Die agrargemeinschaftlichen Strukturen, die historisch in Tirol als „Gemeinde“ bzw als „Fraktion“, seltener als „Ortschaft“, bezeichnet wurden, wurden als gemeinderechtliche Strukturen hingestellt.
So ist es in diversen Osttiroler Ortsgemeinden vorgekommen, dass das Bezirksgericht Lienz aufgrund eines bloßen Zettels, den ein Nazi-Bürgermeister unterfertigt hatte, eine Grundbucheintragung lautend auf „Ortschaft“ oder auf „Fraktion“ (beides Bezeichnungen für einen agrargemeinschaftlichen Eigentumsträger) umgeschrieben hat auf „Gemeinde“.
AGRARGEMEINSCHAFTEN ALS GEMEINDETEILE?
Mit der Deutung einer agrargemeinschaftlichen Struktur als „Einrichtung gemeinderechtlicher Art“ konnte die neue, politische NS-Gemeinde als Nachfolgerin im Eigentumsrecht auftreten. Dafür ausreichend war offensichtlich ein äußerer Anschein und die Meinung des jeweiligen lokalen NAZI-Bürgermeisters. Auf der Grundlage von bloßen „Niederschriften“ und dem Verweis auf die neue NAZI-Gemeindeordnung, wurde den Agrarobleuten die Kasse, alle Verwaltungsunterlagen und letztlich das Eigentum an den Liegenschaften abgenommen.
Die Osttiroler Grundbücher vermerken zu diesen Vorgängen lapidar: „Aufgrund der Niederschrift vom xxx [Datum der Amtshandlung] und des GesBl f.d. Land Österreich Nr 408/38 [Einführung der NAZI-Gemeindeordnung 1935 in Österreich] wird das Eigentumsrecht für die Gemeinde xxx einverleibt.“ Anstatt eines unabhängigen Rechtssprechungsorganes hat der NAZI-Bürgermeister entschieden, ob das jeweilige „Enteignungsziel“ eine „Einrichtung gemeinderechtlicher Art“ oder eine Agrargemeinschaft war.
Bei dieser völligen Vereinnahmung des agrargemeinschaftlichen Vermögens für die neuen NS-Gemeinden dienten die irreführenden Grundbucheintragungen auf „Ortschaft“ oder „Fraktion“ als Anknüpfungspunkt, um eine „Einrichtung gemeinderechtlicher Art“ zu unterstellen. Hinzu kam, dass die uralten Nachbarschaften über Jahrhunderte Funktionen wahrgenommen hatten, die im NS-Staat und auch heute als typische Aufgaben der politischen Ortsgemeinde angesehen werden (zB: Betrieb und Erhaltung der lokalen Volksschule, Wege- und Brückenerhaltung auf Nachbarschaftsgebiet, lokale Sicherheitspolizei).
Die Deutsche Gemeindeordnung vom 30.01.1935, (dRGBl I Nr. 6), die am 1.10.1938 auch in Österreich in Kraft getreten war, sah keine demokratisch gewählten Gemeindevertretungen vor und sollte die Übereinstimmung der kommunalen Organe mit der NS-Staats- und Parteiführung und den Durchgriff der Partei nach unten absichern. § 6, Abs. 2 lautete: „Bürgermeister und Beigeordnete werden durch das Vertrauen von Partei und Staat in ihr Amt berufen. Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP bei bestimmten Angelegenheiten mit.“ Und § 33, Abs. 1: „Zur Sicherung des Einklangs der Gemeindeverwaltung mit der Partei wirkt der Beauftragte der NSDAP bei der Berufung und Abberufung des Bürgermeisters, der Beigeordneten und der Gemeinderäte mit“ „Versagt der Beauftragte der NSDAP seine Zustimmung und kommt es zu keiner Einigung“, so entscheidet der Statthalter bzw. die Aufsichtsbehörde. Die Partei hatte Zugriff auf Bürgermeister, Beigeordnete und Gemeinderäte. § 51 lautete: „Der Beauftragte der NSDAP beruft im Benehmen mit dem Bürgermeister die Gemeinderäte.“ (Roman Sandgruber)
Die nationalsozialistische Gemeindeordnung von 1935 und die Angleichungsverordnung für Österreich (Angleichungsverordnung zur DGO, Ges.Bl. f. Öst. Nr. 429/38) ordneten dem Bürgermeister, was das Gemeindegliedergut und Vermögen betrifft, umfassende Macht zu: Vor allem § 55, Abs. 8 und 9 der Gemeindeordnung musste das Misstrauen aller agrarischen Gemeinschaften mit Sondervermögen wecken: „Der Bürgermeister entscheidet über Umwandlung von Gemeindegliedervermögen in freies Gemeindevermögen, über Veränderungen der Nutzungsrechte am Gemeindevermögen, Veräußerungen etc.“ Der NS-Staat war als monokratischer Einheitsstaat ausgelegt. Die Partei kontrollierte alles. Dieser Zugriff wäre auf autonome Fraktionen, Agrargemeinschaften oder Vereine nicht in dieser Art möglich gewesen, zumal die Organisationsdichte der NSDAP in Osttirol sehr niedrig war. Daher wollte man möglichst viel den leichter beherrschbaren Gemeinden zuordnen. Die Fraktionen, Kommunen und sonstigen Korporationen wurden daher aufgelöst.
Generell lag es in den Intentionen des nationalsozialistischen Staates, die Gemeinden gegenüber „Fraktionen, Ortschaften, und ähnlichen innerhalb der Gemeinde bestehenden Verbänden, Körperschaften und Einrichtungen gemeinderechtlicher Art“ (DGO, Art. II, § 1), aber auch gegenüber Agrargemeinschaften oder Vereinen etc. zu stärken. Nach Möglichkeit sollten autonome oder subsidiäre Unterorganisationen beseitigt werden. Auf die Gemeinden hingegen hatte sich die Partei einen entsprechenden Zugriff gesichert.
Die Gemeindezusammenlegungen – die Zahl der Osttiroler Gemeinden wurde von 50 auf 25 halbiert -, die Fraktionsaufhebungen und Vermögenseinverleibungen, die praktisch völlig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg geschahen, erweckten viel böses Blut. Die neue Gemeindeordnung und die Gemeindezusammenlegungen, die die Fraktionen und Kleingemeinden beseitigten und die von vielen Bauern als Enteignung der in Nachbarschaften udgl. organisierten Bevölkerung empfunden wurden, indem das Gemeinschaftsvermögen als Fraktionsvermögen den neuen Großgemeinden zugesprochen wurde, führten zusammen mit den sonstigen Eingriffen und Einziehungen lokaler, insbesondere auch religiöser oder traditioneller Korporationen und Vereine, einem gewaltigen Widerstandspotential, das sich besonders bei parteiskeptischen Bauern aufbaute. (Roman Sandgruber)
Es kam zu massiven Protesten der Bauern, die letztlich eine Reaktion der Gauleitung in Klagenfurt zur Folge hatten. Es ist durchaus verständlich, dass eine Fraktion, Interessentschaft oder Genossenschaft einiger weniger Bauern in einem abseits vom Hauptort der Gemeinde gelegenen Teil angesichts der Auflösung ihrer Fraktion oder gar Gemeinde erhebliches Misstrauen gegen die neue Gemeindeführung haben musste. Der Bürgermeister der Gemeinde war mit Sicherheit ein Vertrauensmann der Partei, häufig gar kein Bauer, während die Bauern, meist tief katholisch, mit der Partei wenig anzufangen wussten und ihre Enteignung befürchteten. (Roman Sandgruber) Die in der Folge eingeleiteten Untersuchungen der Agrarbehörde erfolgten – jedenfalls ursprünglich – in uneingeschränktem Einvernehmen mit der Gauleitung in Klagenfurt.
WOLFRAM HALLER – JURIST MIT HERZ UND HIRN
Der damalige Leiter der Agrarbezirksbehörde Lienz, Dr. Wolfram Haller, war Kärntner Agrarjurist und Leiter der Agrarbezirksbehörde Villach. Er hat die von ihm festgestellten Mängel bei der Verbücherung des agrargemeinschaftlichen Besitzes in den Grundbüchern Osttirols ausführlich dokumentiert. So beispielsweise im Bericht Zl 519/41/Vi, Agrarbezirksbehörde Lienz, „Überprüfung agrargemeinschaftlicher Grundstücke im Landkreis Lienz, Bericht an die Obere Umlegungsbehörde beim Reichsstatthalter“ vom 31. Dezember 1941 oder in einer systhematischen Darstellung aus dem Jahr 1947: Wolfram Haller, Die Entwicklung der Agrargemeinschaften in Osttirol (1947) Österreichische Nationalbibliothek, Sign 753717 –C.
Als Agrarjurist aus Kärnten hatte Dr. Wolfram Haller die Problematik der Tiroler Grundbuchanlegung schnell erkannt: In Kärnten war das Teilungs- Regulierungs- Landesgesetz bereits 1885 in Kraft gesetzt worden (Gesetz für das Herzogtum Kärnten vom 5.6.1885, LGBl 23/1885). Bei der Anlegung der neuen Grundbücher war die Agrargemeinschaft als rechtsfähiges Gebilde präsent.
Dr. Wilhelm Wadl, Direktor des Kärntner Landesarchivs, erläuterte die historische Situation in Kärnten in einem Schreiben an das Tiroler Landesarchiv vom 20. Juni 2012 folgendermaßen: „In Kärnten wurde die Regulierung des agrargemeinschaftlichen Besitzes in ganz ähnlicher Weise wie in Tirol schon in den 1870er und 1880er durchgeführt. Anlässlich der Neuanlage der Grundbücher wurden sowohl die Bürgermeister als auch die Obmänner der örtlichen Nachbarschaften vorgeladen und mussten diese bei allen nicht in Individualbesitz stehenden Parzellen erklären, ob es sich um agrargemeinschaftliches Gut oder öffentliches Gut handelte. Dementsprechend wurden dann Einlagezahlen für die jeweiligen Agrargemeinschaften gebildet und der restliche Gutsbestand in die Verzeichnisse des öffentlichen Guts eingetragen. In weiterer Folge kam es bei den Agrargemeinschaften selbst zur Regulierung, das heißt, entweder zur Aufteilung auf Einzeleigentümer oder zur eindeutigen Festlegung von Anteilen und der Zuschreibung dieser Anteile zu Stammliegenschaften. Niemand in Kärnten würde daraus heute eine Enteignung der Gemeinden ableiten, obwohl vor der eindeutigen Zuschreibung durch die Grundbuchanlegung bekanntermaßen in den Parzellenprotokollen des Grundsteuerkatasters in der Besitzerrubrik fast überall der durchaus mehrdeutige Begriff „Gemeinde XY“ aufscheint. Bekanntlich erfolgte die Vermessung in Kärnten in den Jahren 1826 bis 1829, als es noch längst keine politischen Ortsgemeinden im heutigen Sinn gab und der Gemeindebegriff daher einen ganz anderen Bedeutungsinhalt hatte.“
FRAKTIONENGESETZ STATT REGULIERUNG
Im krassen Gegensatz zum historischen „Herzogtum Kärnten“ hatte man in der „gefürsteten Grafschaft Tirol“ für mehr als 35 Jahre darauf verzichtet, das Teilungs- Regulierungs- Reichsgesetz 1883 in einem entsprechenden Landesgesetz umzusetzen. Während der Stern der neuen politischen Ortsgemeinde aufgrund des Reichsgemeindegesetzes 1862 und des Tiroler Ausführungsgesetzes 1866 samt Gemeindewahlordnung dazu, unaufhaltsam im Steigen war, geriet die ursprüngliche Organisation der Nachbarn unter deren Räder: Die neue, politische Ortsgemeinde wurde als Fortsetzung der historischen Nachbarschaften angesehen. Dies war schon deshalb naheliegend, weil sich diese Nachbarschaften über Jahrhunderte „Gemeinde“ genannt und sich als „Gemeinde“ verstanden hatten.
Konsequenterweise wurden die historischen Nachbarschaftsliegenschaften, die der gesamten „Gemeinde-Nachbarschaft“ zugeordnet wurden, bei der Grundbuchanlegung unter der Eigentümerbezeichnung „Gemeinde“ erfasst.
Dabei hat es sich als Manko erwiesen, dass das neue, politische Gemeinderecht für die Nachbarschaften, die nur einen Teil des Gebietes der neuen Ortsgemeinden abdeckten, kein passendes Organisationsmodell angeboten hat. Für diese Nachbarschaften hat man in Tirol im Jahr 1893 ein „Fraktionengesetz“ geschaffen (LGBl 1893/32). Nach dem erklärten Willen des historischen Gesetzgebers sollten die „alten Cooperationen“ – aus heutiger Sicht Agrargemeinschaften – in das politische Gemeinderecht integriert werden.
Vgl nur: Bericht des Landesausschusses betreffend einige Änderungen des Gemeindegesetzes, Beilage Nr 18 zu den stenographischen Berichten des Tiroler Landtages, VII. Periode, IV. Session 1892/93, Berichterstatter: Landeshauptmann Anton Graf Brandis: „Denn es ist vor Allem sehr schwer gesetzlich zu definieren, was eigentlich eine Gemeinde-Fraktion sei, der man die Berechtigung einer selbstständigen Existenz zuerkennen müsse. Im Allgemeinen dürfte wohl die selbstständige Vermögensverwaltung ein wesentliches Merkmal sein, doch kann es auch Fraktionen ohne eigenem Vermögen, die doch alle übrigen Erfordernisse einer selbstständigen Stellung in sich tragen, während mitunter kleine Corporatiönchen mit eigener Vermögensverwaltung kein Anrecht darauf erheben können, als eigentliche Gemeinde-Fraktionen anerkannt zu werden.“
„Eine weitere Veranlassung der gegenwärtigen Vorlage ist das Bedürfnis, den Fraktionen endlich einmal den ihnen gebührenden Platz in unserer Gemeindegesetzgebung zu verschaffen. Unser Gemeindegesetz kennt eigentlich nur Ortsgemeinden mit ihrer Vertretung. Dass diese Ortsgemeinden auch aus Teilen, Fraktionen, bestehen können, wird insofern anerkannt, dass diese Fraktionen auch eigenes Vermögen besitzen können, welches sie, und zwar unter Oberaufsicht der gesamten Gemeindevertretung, selbstständig verwalten sollen; wie aber diese Verwaltung geschehen soll? Durch wen? Wer die Fraktion vertreten soll? Das ist der rechtsgültigen Übung anheimgestellt. Diese rechtsgültige Übung nun ist ein sehr vielgestaltiges Etwas, und lässt mitunter auch bezüglich ihrer Rechtsgültigkeit begründete Zweifel aufkommen. Es sind dies größtenteils Überbleibsel der älteren Gemeindeordnungen, die man bestehen ließ, weil man eben nichts passendes an deren Stelle zu setzen wusste, die man aber behördlich so viel als möglich ignorierte, weil sie nicht in den Rahmen der neuen Gesetzgebung hineinpassten, und die so möglichst unkontrolliert fortwucherten in einer Weise, die weder zum Besten des neuen Gemeindegebildes war, noch auch dem Geiste der alten Einrichtungen entsprach.“
„Es möge nun der Versuch gemacht werden, diese alten Einrichtungen innerhalb des Rahmens des Gemeindegesetzes mit den gegenwärtigen Verhältnissen in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe ist durchaus nichts unmögliches, ja sie ist vielleicht nicht einmal so schwierig als sie auf den ersten Blick aussehen mag. Unsere alten Gemeindeordnungen waren ja keine so starren Eisgebilde, als man sich heutzutage mitunter vorstellt. Der allgemeine Rahmen blieb allerdings durch manche Jahrhunderte hindurch unverändert der gleiche; aber innerhalb dieses Rahmens fanden manche Entwicklungen und Veränderungen statt, insbesondere betrafen diese Veränderungen die Art der Vertretung und die Kompetenz der einzelnen Gemeinde-Funktionäre. Es ist daher gar kein so unerhörter Eingriff in die alten Formen, wenn man heute festsetzt, der Dorfmeister, Regolano, oder wie er immer heißen mag, bleibt Vorsteher der Fraktion, wird aber in Hinkunft nach den Bestimmungen des Gemeindegesetzes vom 9. Jänner 1866 gewählt. Er hat an seiner Seite nach Bedarf einen Ausschuss früher von … jetzt von … Männern, die in gleicher Weise gewählt werden.“
Dieses „Fraktionengesetz“ ist – als Tiroler Spezialität – noch im Jahr 1893 in Kraft getreten und bildete seither den Rechtsrahmen für die Verwaltung zahlloser Agrargemeinschaften. Konsequenter Weise hatte die Tiroler Grundbuchanlegung in zahllosen Fällen – schon wegen des Mangels an Alternativen – Agrargemeinschaften als „Fraktionen“ verstanden und das Nachbarschaftseigentum im Grundbuch als „Fraktion“ angeschrieben. Umso mehr wurde damit das Verständnis der Agrargemeinschaft als Teil der politischen Gemeindestruktur bestärkt: Statt eines Obmannes hatte die Agrargemeinschaft einen „Fraktionsvorsteher“; statt der Vollversammlung entschied die Fraktionsversammlung; die Funktion der Agrarbehörde als Aufsicht übten Bürgermeister und Gemeinderat.
NS-GEMEINDERECHT TRIFFT „FRAKTIONEN“
Dieses funktionierende System wurde im Jahr 1938 vom dt Gemeinderecht überrollt, wonach im Sinn des „Führerprinzips“ auf Gemeindeebene alle Teil- und Unterorganisationen der politischen Gemeinden für aufgelöst erklärt wurden. Ihr Rechtsnachfolger sollte die Gesamtgemeinde werden; das alles per 1. Oktober 1938, mit welchem Stichtag die dt Gemeindeordnung aus dem Jahr 1935 auch „im Land Österreich“ in Kraft gesetzt wurde.
Streng dem Gesetz nach war natürlich nur an wahre Einrichtungen der politischen Ortsgemeinden gedacht. Laut Artikel II, § 1 der Einführungsverordnung zur Dt Gemeindeordnung wurden Ortschaften, Fraktionen und ähnliche innerhalb einer Gemeinde bestehende Verbände, Körperschaften und Einrichtungen gemeinderechtlicher Art aufgelöst. Ihr Rechtsnachfolger sollte die Gemeinde sein.
Generell lag es freilich in den Intentionen des nationalsozialistischen Staates, die politischen Gemeinden zu stärken; dies gegenüber „Fraktionen, Ortschaften, und ähnlichen innerhalb der Gemeinde bestehenden Verbänden, Körperschaften und Einrichtungen gemeinderechtlicher Art“ (DGO, Art. II, § 1), aber auch gegenüber Agrargemeinschaften oder Vereinen etc. . Nach Möglichkeit sollten autonome oder subsidiäre Unterorganisationen beseitigt werden. Alle diese Einrichtungen und Organisationen sollten – dem Gedanken des „Führerprinzips“ folgend – dem Bürgermeister unterstehen, weil die Partei sich auf die politischen Gemeinden und deren Bürgermeister einen gesicherten Zugriff ausüben konnte.
Nach dem 1. Oktober 1938 beanspruchten deshalb zahllose Nazi-Bürgermeister das agrargemeinschaftliche Vermögen als angebliches neues Gemeindeeigentum. Die Tiroler Agrargemeinschaftsmitglieder hatten sich im allgemeinen Konsens über Jahrzehnte des Organisationsmodells der Gemeindefraktion (§§ 127 – 141 TGO 1935, LGBl 36/1935) bedient; unter den Rahmenbedingungen des NS-Unrechtsstaates musste dies Konsequenzen haben: Der Agrarobmann wurde in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsteher (einer „Anscheins-Fraktion“ der Ortsgemeinde) einbestellt, es wurden ihm die Kasse und alle Verwaltungsunterlagen abgenommen und es wurde über den Vorgang eine Niederschrift angefertigt. Unter Berufung auf diese Niederschrift wurde dem NAZI-Bürgermeister Verfügungsbefugnis über das Bankkonto eingeräumt und das Bezirksgericht Lienz hat das Eigentumsrecht an den Liegenschaften auf die jeweilige Ortsgemeinde umgeschrieben.
Solche Vorgänge verursachten im Osttirol eine derartige Unruhe, dass die Gauleitung eine Überprüfung derselben durch die Agrarbehörde Villach initiierte. Dr. Wolfram Haller, Agrarbehördenleiter in Villach, berichtet darüber folgendes: „Bitter wirkte sich dagegen die enge Verbundenheit der Agrargemeinschaften als Fraktionen mit der Gemeinde im Agrarbezirk Lienz aus, der zuerst der Agrarbezirksbehörde Villach angeschlossen, dann aber als selbständige Agrarbezirksbehörde Lienz eingerichtet wurde, die ich rechtlich mitbetreuen musste. Ein aus dem Altreich gekommener Landrat, der mit den örtlichen Verhältnissen nicht vertraut war, löste sofort alle Fraktionen auf Grund der Einführungsverordnung auf und führte die Fraktionsgüter ins Vermögen der Gemeinden über. Dadurch entstand eine derartige Unruhe unter den Bauern, dass sogar das Reichssicherheitshauptamt in Berlin Erhebungen pflegen ließ. Eine Abordnung Tiroler Bauern unter Führung des vulgo Plauz in Nörsach kam zu mir nach Villach und bat dringend um Hilfe. Plauz erklärte, dass eher Blut fließen werde, als dass sich die Bauern ihre alten Rechte nehmen ließen.“ (Wolfram Haller, Kärntner Agrargemeinschaften , in: Carinthia 1.157.1967, S. 662 f)
WOLFRAM HALLER SOLL ES RICHTEN
Am 6. Oktober 1942 berichtet Dr. Wolfram Haller an den Reichsstatthalter in Klagenfurt als ein Zwischenergebnis seiner Arbeit, dass agrargemeinschaftliche Grundstücke, die grundbücherlich als Eigentum von „Fraktionen, Ortschaften oder von Gemeinden“ eingetragen waren, in das Eigentum von Agrargemeinschaften übertragen wurden. Wegen dieses Engagements wurden Dr. Wolfram Haller Verstöße gegen NS-Recht vorgeworfen.
Dr. Haller dazu: „In einer Bereisung aller Osttiroler Gemeinden wurde die Überführung der agrargemeinschaftlichen Grundstücke auf Grund des Tiroler FLG durch Hauptteilungen und Regulierungen in körperschaftlich eingerichtete Nachbarschaften in die Wege geleitet. Auf Grund einer Denunziation durch einen Angehörigen der Reichsforstverwaltung beim Reichsforstmeister schritt dieser beim Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft ein, der in einem scharfen Erlass den Reichsstatthalter in Klagenfurt anwies, diese gegen nat.soz. Gesetze gerichteten Umtriebe abzustellen. Regierungsdirektor Dr. Stotter, der damals die Agrarabteilung leitete, übergab mir den Erlass zur Stellungnahme. In einem sehr ausführlichen Bericht wies ich an Hand alter Urkunden nach, dass es sich bei den Fraktionen um Agrargemeinschaften handle, die schon vor Jahrhunderten als Nachbarschaften bestanden haben. Ich wies auch darauf hin, dass bei der Neubildung Deutschen Bauerntums im Osten ähnliche Einrichtungen geplant seien. Darauf kam vom RMfE u.L. ein Erlass, der feststellte, dass mein Bericht mit Befriedigung aufgenommen worden sei. Ich wurde auch eingeladen, für die vom Ministerium herausgegebene Zeitschrift „Agrarrecht“ einen diesbezüglichen Aufsatz zu schreiben. Da ich als einziger Jurist der Agrarbezirksbehörden Villach, Klagenfurt, Lienz mit Arbeit überhäuft war, schrieb ich keinen Aufsatz, wohl aber verfasste ich 1947 bei der Rückgliederung Osttirols eine Gedenkschrift über die Entwicklung der Agrargemeinschaften in Osttirol, von der sich eine Ausfertigung im Kärntner Landesarchiv befindet. Mit Ausnahme von zwei Gemeinden, wo ich nicht mehr dazukam, wurden in allen Gemeinden die agrargemeinschaftlichen Grundstücke ins Eigentum von Nachbarschaften überführt, die reguliert wurden.“ (Roman Sandgruber, Gutachterliche Stellungnahme – Haller´sche Urkunden (2012) Gutachten, erstellt im Auftrag der Tiroler Landesregierung, Seite 27)
ROMAN SANDGRUBER ZU HALLER & OSTTIROL
Univ.-Prof. Dr. Roman Sandgruber beschreibt in seiner gutachterlichen Stellungnahme „Haller´sche Urkunden“ (2012) im Auftrag der Tiroler Landesregierung, die Osttiroler Vorgänge der Jahre 1938 ff:
„Der zeitliche Ablauf lässt sich aufgrund der dürftigen Aktenlage nur bruchstückhaft darstellen: Jedenfalls begannen die nationalsozialistischen Bürgermeister umgehend mit der grundbücherlichen Einverleibung des bisherigen Fraktionseigentums zugunsten der politischen Gemeinden. Anlässlich der Übergabe des Fraktionsvermögens und des Fraktionsguts der Fraktion Oberassling am 10. 11. 1938 wurde dem ehemaligen Fraktionsvorsteher Anton Fuchs mitgeteilt bzw. nahegelegt, dass auch das Eigentum der Nachbarschaft im Sinne der Deutschen Gemeindeordnung als Körper gemeinderechtlicher Art angesehen werde und daher an die politische Gemeinde übergehe. Einwände wurden von der Landeshauptmannschaft abgewiesen.
Die Agrarbezirksbehörde unter Leitung Hallers scheint sich auf die Seite der Bauern gestellt zu haben. Die Agrarbezirksbehörde forderte mit Kundmachung 12. April 1939 Zl. 928/39 alle Nutzungsberechtigten an agrargemeinschaftlichen Grundstücken, die durch die Einführungsverordnung zur DGO betroffen waren, zur Anmeldung ihrer Rechte zwecks Überprüfung der eigentumsrechtlichen Verhältnisse auf. Anlässlich einer Tagung der Landesbauernschaft Südmark Abt. 1 in Lienz in Anwesenheit der Ortsbauernführer und der Vertreter der Gemeinden im Mai 1939 wurde die Einbeziehung der Fraktionen, Ortschaften und ähnlichen Körperschaften besprochen. Nach gründlicher Erläuterung des Falles der Nachbarschaft Oberassling durch den Ortsbauernführer Hans Passler beantragte der Leiter der Hauptabteilung 1 der Landesbauernschaft Südmark Ing. Geil diesen Fall als Schulbeispiel herauszugreifen und sofort an Ort und Stelle zu besichtigen. Nach Ende der Tagung begaben sich die Herren Ing. Geil, Dr. Jörger, Stabsleiter Grosse und Gunzenhauser sowie der Ortsbauernführer und der Vertreter der Gemeinde zum Grundbuch, sodann unverzüglich nach Assling zur örtlichen Besichtigung und Erhebung.Die genannten Herren kamen zur vollen Überzeugung, dass es sich in diesem Falle tatsächlich um keine Einrichtung gemeinderechtlicher Art handle.
Im Bericht dazu heißt es: Die Nachbarschaft Oberdorf besteht aus 21 Höfen, die Gesamtortschaft bzw. Fraktion aus 33 Höfen. Auf verschiedenen Parzellen waren Servitute eingetragen: Weideausübung, Bezug von Bauholz. Diese Servitute wurden in den 20er und 30er Jahren abgelöst. Bei der Durchführung dieser Ablöse war weder die Fraktion noch die Gemeinde zuständig und wurde deshalb von bevollmächtigten Vertretern der Besitzer einerseits und bevollmächtigten Vertretern der Servitutsberechtigten andererseits durchgeführt. Die alljährlich zu entrichtenden Steuern aller Art wurden nicht aus Fraktionsmitteln, sondern von den Besitzern aufgebracht.In der hierüber aufgenommenen Niederschrift vom 7. Juni 1939 wurde von allen Teilnehmern zum Ausdruck gebracht, dass die Überführung aller ehemaligen Fraktions- und Gemeindegüter in das Eigentum von körperschaftlich eingerichteten Agrargemeinschaften (Nachbarschaften) durch die Agrarbehörde die beste und zweckmäßigste Lösung sei, durch die eine Beruhigung innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung eintreten und die Durchführung von Eingemeindungen wesentlich erleichtert werden würde.
Das hierauf eingeleitete Verfahren der Agrarbezirksbehörde wurde durch den Kriegsausbruch unterbrochen. Haller machte den Polen- und Frankreichfeldzug mit. Erst im März 1941 wurde Dr. Haller u.k. gestellt. Als die Verfahren der Agrarbezirksbehörde bei der Fraktion Ried wieder aufgenommen wurden, führte es zu keinem Ergebnis, weil die Gemeindeaufsichtsbehörde inzwischen ihre Ansicht dahin geändert hatte, dass die Obere Gemeindeaufsichtsbehörde nicht nur zu entscheiden habe, ob ein Verband gemeinderechtlicher Art gewesen sei, sondern auch ob agrargemeinschaftliche Grundstücke Teil eines solchen Verbands und damit Fraktionsgut waren.
Am 2. Juni 1941 wiederrief der Reichsstatthalter in Kärnten die Entscheidung der Landeshauptmannschaft vom 26. Nov. 1938, dass die der Nachbarschaft Oberdorf zugehörigen Grundstücke nicht unter die Bestimmungen Art. II, § 1, Einführungsverordnung fallen und daher nicht in das Vermögen der Gemeinde Assling übergehen würden.
In einer Verhandlungsniederschrift vom 26.6.1941, aufgenommen von Dr. Wolfram Haller in Assling, gaben die Mitglieder der Nachbarschaft Oberdorf die Erklärung ab: Es sei Gemeinschaftsbesitz der Nachbarschaft Oberdorf, bezüglich der einst das Regelungsverfahren nach dem TRLG bzw. jetzt FLG rechtskräftig eingeleitet war. „Gegen unseren Willen und ohne Genehmigung der Agrarbehörde wurde dieser Gemeinschaftsbesitz, obwohl das Regelungsverfahren grundbücherlich angemerkt war, in das Gemeindegliedervermögen der Gemeinde Assling überführt. Sie seien mit einer Hauptteilung nur einverstanden, wenn damit die Rückführung der Grundstücke ins Eigentum der Nachbarschaft Oberdorf einwandfrei möglich ist.“ Bei einer am 18. Sept. 1941 unter Vorsitz des Herrn Regierungspräsidenten stattgefundenen Besprechung, an der Vertreter der Oberen Gemeindeaufsichtsbehörde, Oberen Umlegungsbehörde und der Agrarbezirksbehörde teilnahmen, wurde die sofortige Überprüfung der Eigentumsrechte an den in Frage kommenden agrarwirtschaftlichen Grundstücken in allen Gemeinden des Landkreises Lienz durch eine aus Vertretern der Gemeindeaufsichts-, Agrar- und Forstbehörden, sowie der Kreisbauernschaft Lienz zusammensetzte Kommission für zweckmäßig erkannt. Diese Kommission sollte möglichst einvernehmlich alle schwebenden Fragen bereinigen. In jenen Fällen, wo ein Einvernehmen nicht erzielt werden konnte, erklärte sich Herr Regierungspräsident als stellvertretender Reichsstatthalter bereit, einen Schiedsspruch zu fällen.
In einem Schreiben vom 21.12.1941 wird berichtet, dass zwischen dem 13. und 21.10.1941 Verhandlungen zur Überprüfung agrargemeinschaftlicher Grundstücke im Landkreis Lienz stattgefunden haben. Ausfluss dieses Berichtes war die Vielzahl an durchgeführten Regulierungsverfahren. Bei einer Besprechung am 25.2.1942, an der Reg.Dir. Dr.Ing. Sepp Stotter (Leiter Abt. IV), Reg.Rat Dr. Wolfram Haller, Leiter der Agrarbezirksbehörde Villach, ObReg.Rat Dr. Günther, Sachbearbeiter in Gemeindeangelegenheiten Abt. Ia und ObReg.Rat Dipl.Ing. Franz Trojer, Leiter Unterabt. IVb teilnahmen, berichtete Haller aufgrund der vom 13.-21. Okt. 1941 durchgeführten Verhandlungen und Erhebungen im Landkreis Lienz. Er referierte die geschichtliche Entwicklung und betonte besonders die alte Tradition der als „Nachbarschaften“ bezeichneten Gemeinschaften, die in den landesfürstlichen und bischöflichen Waldungen Weide-, Streu- und Holzbezugsrechte etc. genossen. Die Nachbarschaften wachten streng über die Grenzen ihres Eigenbesitzes und ihrer Nutzungsrechte, was viele Grenzstreitigkeiten und Tausch- und Vergleichsverhandlungen belegen würden.
Es gab Konflikte mit den Bürgermeistern, aber auch Interessenskollisionen der Bürgermeister, wenn sie gleichzeitig nutzungsberechtigt in Agrargemeinschaften waren. Solch einen Konflikt gab es in Assling, wo der Bürgermeister 1941 gewechselt hatte. In einem Schreiben des Reichsstatthalters vom 21. Juli 1942 an die Unterabteilung IVb wurde die Frage der Befangenheit von Bürgermeistern im Fall Assling aufgerollt: „Im Fall Assling hat der jetzige Bürgermeister, damaliger 1. Beigeordneter (= Vizebürgermeister) die Zustimmung zur Hauptteilung und den Verzicht der Gemeinde auf die Abfindung erklärt. Da er in der Fraktion Oberassling nutzungsberechtigt ist, liegt bei ihm Befangenheit vor und sind seine Entschließungen hinsichtlich des Gemeindegliedervermögens aus der ehemaligen Fraktion Oberassling schon gemäß §25 DGO rechtsunwirksam. Wie die Sachlage gelöst wurde, geht aus den verfügbaren Akten nicht hervor.
Auch in Anras gab es Konflikte. Dem Schreiben Hallers vom 17. Sept. 1942 an den Regierungsdirektor ORR Dr. Günther und OI Pabst zufolge haben sich gestern nach einer langen Unterredung nunmehr auch diese bezüglich der Gemeinde Anras dem agrarbehördlichen Standpunkt angeschlossen und der Überführung des Gemeindegliedervermögens an Agrargemeinschaften zugestimmt. In gemeinsamen Verhandlungen soll in der Zeit vom 30.9.-2.10. in den Gemeinden Assling, Anras, Kartitsch und Obertilliach die Bereinigung aller die Gemeindeaufsichtsbehörde und Agrarbehörde noch berührenden Angelegenheiten erfolgen. Er möchte den Bericht an den Reichsinnenminister auf eine kurze Darstellung der getroffenen Maßnahmen beschränken „und würde es sich empfehlen von einer langen Abhandlung über die dadurch beseitigten Zustände, die dem Chef der Sicherheitspolizei Anlass zum Einschreiten geben, abzusehen.“ Zwischen Fraktionsgut und agrargemeinschaftlichem Nachbarschaftsgut, schreibt Haller, bestand große Ähnlichkeit. Die Erträgnisse kamen in beiden Fällen ausschließlich einem bestimmten Kreis von Nutzungsberechtigten zugute. Die Gutsbezeichnung der agrargemeinschaftlichen Grundstücke spielte namentlich dann keine besondere Rolle, wenn die Unterordnung unter die Gemeinde außer Acht gelassen wurde. Mit der Einführung der deutschen Gemeindeordnung änderte sich das. Nun sei nicht mehr die Fraktion, sondern die Politische Gemeinde maßgeblich gewesen. Das Interesse der Gemeinden an den agrargemeinschaftlichen Grundstücken war vor allem ein finanzielles, schreibt Haller. Es wurden verschiedene Argumente vorgebracht, die für Agrargemeinschaften statt Gemeindeeigentum sprachen. Die inneren Gegensätze in Gemeinden, die aus der Zusammenziehung getrennter Nutzungsgruppen mit verschiedener Nutzungsberechtigung. Als Beispiel wurden die Matreier Gemeindewälder angeführt. Kleine Gemeinschaften, die Eigentümer sind, wirtschaften besser. Schließlich spreche auch die Anpassung der Agrarverfassung im Landkreis Lienz an die des Gaus Kärnten für die Agrargemeinschaft.“
II. FESTSTELLUNG DER EIGENTÜMER
Mit Bescheid vom 23. September 1943 502/43/Vi hat die Agrarbehörde als gesetzlicher Richter über die Eigentumsverhältnisse am Gemeindegut hinsichtlich der Liegenschaft in EZ 200 II KG Virgen folgendes entschieden: Der Gemeinschaftsbesitz, vorgetragen in EZ 200 II KG Virgen, ist Eigentum der Agrargemeinschaft Nachbarschaft Virgen. Diese Agrargemeinschaft besteht aus insgesamt 53 anteilberechtigten, jeweils mit Einlagezahl und Hofnahmen rechtskräftig festgestellten Liegenschaften.
Auch die Anteilrechte, die auf jede Liegenschaft entfallen, wurden umfangmäßig bestimmt und rechtskräftig entschieden. Es wurden 2130 Anteile gebildet und jeder Liegenschaft die entsprechende Zahl an Anteilen zugeordnet – von 11 bis 168. Jedes dieser rechtskräftig festgestellten Anteilrechte ist einem bestimmten Haus in der Nachbarschaft zugeordnet. Ein Anteilsrecht der politischen Ortsgemeinde als solcher existiert nach diesem rechtskräftigen Bescheid nicht.
NS-ENTEIGNUNG ZUR ZWEITEN
Obwohl die Agrarbehörde mit Bescheid vom 23. September 1943 502/43/Vi entschieden hatte, dass die Ortsgemeinde Virgen gerade nicht die Eigentümerin des Regulierungsgebietes war und ist, wird heute – bezeichnender Weise mit den identen Argumenten wie ursprünglich vom NAZI-Bürgermeister – ein „Substanzrecht der Ortsgemeinde Virgen“ behauptet: Es hätte wahres Eigentum einer politischen Ortsfraktion vorgelegen; kraft NS-Unrechtsgesetzen sei die Ortsgemeinde Rechtsnachfolgerin der „Fraktionen“; die Entscheidung der Agrarbehörde aus dem Jahr 1943 sei wegen „verfassungswidriger Enteignung“ der Gemeinde zu korrigieren.
Die Agrarbehörde hat jedoch als gesetzlicher Richter für die Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse am Gemeindegut entschieden, dass die Agrargemeinschaft Eigentümerin ist. Das Regulierungsgebiet war deshalb seit jeher Eigentum der (nicht regulierten) Agrargemeinschaft.
Rechtskräftig entschieden wurde des Weiteren, dass die weiteren Beschwerdeführer mit ihrem jeweiligen Anteil an allen Erträgnissen und allen Lasten des Regulierungsgebietes aliquot beteiligt sind. Sämtlichen Liegenschaften, heute im Eigentum der weiteren Antragsteller wurden aliquote Anteilsrechte zugesprochen.
Die Entscheidung über die Anteilrechte gemäß Regulierungsplan ist seit Jahrzehnten rechtskräftig. Insbesondere ist diese Entscheidung über die Anteilrechte der verschiedenen Stammsitze und der Ortsgemeinde auch im Verhältnis zur Ortsgemeinde in Rechtskraft erwachsen. Über Jahrzehnte wurde entsprechend dieser Zuordnung der Anteilrechte das Gemeinschaftsgebiet bewirtschaftet. Die historische Entscheidung über die Anteilrechte ist deshalb nicht nur vom Wortlaut eindeutig; diese historische Entscheidung wurde über Jahrzehnte entsprechend dem klaren und eindeutigen Bescheidwortlaut geübt, insbesondere auch mit Zustimmung der Agrarbehörde als zuständige Aufsichtsbehörde.
Das Land Tirol versucht offensichtlich heute Enteignungen des NS-Staates, die noch unter der Herrschaft des NS-Unrechtsregimes als Unrecht erkannt und korrigiert wurden, wieder umzusetzen. Dies mit der TFLG-Novelle 2014, in Kraft seit 1.7.2014!
III. DIE ENTEIGNUNG
Aufgrund der Entscheidungen der Agrarbehörde aus den 1940er Jahren war die Agrargemeinschaft Eigentümerin im Rechtssinn, insbesondere im Sinn des Art. 5 StGG bzw. Art. 1 1. ZPEMRK (so auch VfSlg. 19.262/2010, S. 988). Aber auch die aliquoten Anteilsrechte der Mitglieder an der Agrargemeinschaft vergleichbar einem Aktionär oder Gesellschafter, sind Eigentum im Sinn des Art. 1 1. ZPEMRK; dies ungeachtet ihrer öffentlich-rechtlichen Natur. (vgl EGMR, Gaygusuz, ÖJZ 1996, 955; VfGH Slg. 15.129/1998 zur Notstandshilfe; Slg. 15.448/1999 zu öffentlich-rechtlichen Gehaltsansprüchen; Slg. 16.292 zu Pensionsansprüchen nach dem Bezügegesetz; VfGH 24. 9. 2009, G 165/08, zu Pensionsansprüchen nach dem ASVG, BSVG und GSVG. Kritisch zur ursprünglichen Rechtsauffassung des VfGH: Kucsko-Stadlmayer, Artikel 1 1.ZP, in: Ermacora/Nowak/Treter (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte (1983) 581 (606 ff); Öhlinger, Eigentum und Gesetzgebung, in: Machacek/Pahr/Stadler (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich Bd. II (1992) 643 (655 f). Zu alledem jüngst: Theo Öhlinger, Agrargemeinschaftliche Anteilsrechte und der Eigentumsschutz, in: Die Agrargemeinschaften in Tirol (2010) 281ff; nunmehr auch: VfSlg 19.150/2010).
Die Mitglieder übten in der Vollversammlung der Agrargemeinschaft alle Rechte eines Eigentümerorganes der Agrargemeinschaft aus; alle Vertretungs- und Geschäftsführungsbefugnisse für die Agrargemeinschaft wurden von einem gewählten Ausschuss aus der Mitte der Mitglieder und von einem gewählten Obmann ausgeübt. Alle Erträgnisse aus dem Eigentum der Agrargemeinschaft standen den Mitgliedern nach ihren aliquoten Anteilsrechten zu. Im gleichen Verhältnis hatten die Mitglieder die Lasten zu tragen.
Die Mitglieder und ihre Rechtsvorgänger haben ihr Eigentum über Jahrzehnte ungestört genossen, die Liegenschaften wurden gepflegt, in tausenden Arbeitsstunden wurden die Erträgnisse gesteigert, es wurden umfangreiche Verbesserungen vorgenommen; es wurden Grundstücke zugekauft, Gebäude errichtet und andere Investitionen getätigt. Durch intensive Waldpflege der Mitglieder wurden insbesondere die forstwirtschaftlichen Erträge der Liegenschaften ganz massiv gesteigert.
ENTEIGNUNGSGESETZ LGBl. Nr. 70/2014
Mit Landesgesetz vom 30.06.2014 LGBl. Nr. 70/2014, in Kraft getreten am 1.7.2014, wurde der Agrargemeinschaft das Eigentum am Regulierungsgebiet und an allen damit verbundenen Vermögenswerten entzogen. Das Eigentum der Agrargemeinschaft wurde durch den Landesgesetzgeber in eine Sonderform des öffentlichen Eigentums verwandelt – “atypisches Gemeindegut” genannt.
Dieses „atypische Gemeindegut“ ist nur dem Buchstaben nach ein Eigentum der Agrargemeinschaft; der Sache nach wurde dieses Gut in ein Staatseigentum verwandelt und es wurde einer Staatsverwaltung unterstellt.
Der Staat verfügt nunmehr über dieses Eigentum im Wege von „Substanzverwaltern“, die dem Gemeinderat weisungsgebunden sind und der Staat zieht den Nutzen daraus. Alle Verfügungsbefugnisse über dieses Eigentum und die Erträgnisse daraus stehen dem Staat zu. Die von den Mitgliedern gewählten Organmitglieder, der Obmann und der Ausschuss, wurden als Verwaltungs- und Vertretungsorgane ausgeschaltet.
Per 01. Juli 2014 waren die Gemeinschaftskasse, alle Konten der Agrargemeinschaft und die Sparbücher, alle Schlüssel und Verwaltungsunterlagen an den Bürgermeister als Staatskommissar (= Substanzverwalter) auszuliefern. Eine in der Praxis relevante Restzuständigkeit der gewählten Agrargemeinschaftsorgane besteht nicht. Anders als ein Sachwalter, der im Interesse eines Geschäftsunfähigen handeln muss und den Nutzen des Geschäftsunfähigen befördert, handelt der Substanzverwalter nicht zum Nutzen der bisherigen Anteilsberechtigten. Zweck und Ziel der Tätigkeit eines Substanzverwalters ist es, den Nutzen und die Erträgnisse aus dem Eigentum, die Mieten, Pachten und Verkaufserlöse dem Staat, konkret der Ortsgemeinde zuzuwenden. Nach formellem Recht ist der Substanzverwalter zwar ein Organ der Agrargemeinschaft; dieses Organ handelt jedoch nicht im Interesse der Agrargemeinschaft. Als „implantiertes Staatsorgan“ soll er den Nutzen aus dem ursprünglichen Gemeinschaftsgut dem Staat zuwenden! Obwohl neben dem Substanzverwalter die Organisation der nutzungsberechtigten Agrargemeinschaftsmitglieder bestehen blieb, wurden keinerlei Einnahmen für eine Gemeinschaftsorganisation der Mitglieder gewidmet. Zur Förderung eines Gemeinschaftszweckes der Mitglieder gibt es keine Mittel mehr.
Den Mitgliedern wurde die „Substanz“ ihrer Anteilsrechte entzogen: Die von ihnen gewählten Vertreter, Obmann und Ausschuss, sind ihrer Verwaltungs- und Vertretungsrechte beraubt; in der Vollversammlung entscheidet der Staatskommissar (= “Substanzverwalter“); das Recht auf Beteiligung an Überschüssen bzw Gewinnen ist abgeschnitten; ebenso die Möglichkeit zur Aufteilung oder Nutzung des Eigentums der Agrargemeinschaft.
Geblieben ist den Mitgliedern lediglich ein diffuses Recht auf Deckung eines „historischen Hof- und Gutsbedarfes“ nach Holz und Weide in Form von Naturalleistungen, für welche ein konkreter Bedarf im Einzelfall nachzuweisen ist; unter bestimmten Umständen sollen diese Rechte der „Ausregulierung“ unterliegen. (§ 54 Abs. 6 TFLG 1996).
ENTEIGNUNG WIE ZUR NS-ZEIT?
Im Blick auf einen allseits unbestrittenen Rechtsbestand von Anfang der 1940er Jahre kann schwerlich in Abrede gestellt werden, dass die Mitglieder der Agrargemeinschaft Virgen-Dorf durch die Maßnahmen des Tiroler Landesgesetzgebers 2010 und 2014 enteignet wurden. Die Geltendmachung einer Enteignungsentschädigung in Höhe von EUR 7,260.000,– (sieben Millionen zweihundertsechzigtausend) ist nur konsequent. Gleichzeitig wurde der Ortsgemeinde Virgen das Recht eingeräumt, hinsichtlich eines Teilbetrages von EUR 7,190.000,– anstelle Geldzahlung zu leisten, auf ihr Substanzrecht gem § 33 Abs 5 TFLG 1996 rechtswirksam zu verzichten. Wenn die öffentliche Hand es will, ist der Rechtsfrieden ganz leicht und ganz schnell hergestellt.
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MP