Was ist ein „atypisches Gemeindegut“?

Die Regulierungen vieler Tiroler Agrargemeinschaften sei offenkundig verfassungswidrig gewesen – so die derzeit herrschende Auffassung. Tatsächlich hat der Verfassungsgerichtshof solches anhand eines Sachverhalts, der zur Agrargemeinschaft Mieders festgestellt wurde, so vorausgesetzt. Dies mit Erkenntnis vom 11. Juni 2008. Die Ortsgemeinde hätte einen Rechtsanspruch auf das Eigentum gehabt, weshalb die historische Entscheidung der Agrarbehörde, wonach ein Eigentum einer Agrargemeinschaft vorliege, „offenkundig verfassungswidrig“ war. Auch Verfassungsgerichtshof-Erkenntnisse muss man jedoch zu lesen wissen. Und gerade beim so genannten „Mieders-Erkenntnis“ von 2008 ist besondere Sorgfalt angesagt. Der Punkt ist, dass der Gerichtshof in diesem Erkenntnis gerade nicht geprüft hat, ob die Ortsgemeinde Mieders jemals wahre Eigentümerin war oder ob die Ortsgemeinde Mieders lediglich als Eigentümerin angesehen wurde. Diese Frage wurde im „Mieders-Erkenntnis“ und in dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren nie aufgeworfen und nicht geklärt. Wörtlich stellte der Verfassungsgerichtshof dazu im „Mieders-Erkenntnis“ vom 11. Juni 2008 fest: „Es war in keinem Verfahrensstadium davon die Rede, dass es sich etwa nicht um Gemeindegut gehandelt habe (war doch die Gemeinde, aber nicht die Summe von Nutzungsberechtigten als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen)“. Was nicht Gegenstand des Verfahrens war, brauchte der Gerichtshof (natürlich) nicht zu prüfen.

„GEMEINDEGUT“ ODER „GEMEINDEGUT“?

Die Tiroler Agrargemeinschaften haben auf diesen klarstellenden Hinweis im „Mieders-Erkenntnis“ reagiert. Als die Agrargemeinschaft Unterlangkampfen im April 2010 als „atypische Gemeindegutsagrargemeinschaft“ beurteilt war, wurde in der Beschwerde dagegen an den Verfassungsgerichtshof geltend gemacht, dass das Regulierungsgebiet niemals ein wahres Eigentum einer Ortsgemeinde war. Die irreführende Eigentümeretikette „Fraktion Unterlangkampfen der Gemeinde Langkampfen“ im Grundbuch sei im Sinne von „Nachbarschaft der Gemeinde Langkampfen“ zu verstehen. Die Etikettierung könne ein Jahrhunderte altes Nachbarschaftsgut nicht in ein Staatsgut verwandeln. Der Verfassungsgerichtshof hat dieser Beschwerde zwar keine Folge gegeben, sondern die Rechtssache an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung weitergereicht. Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch für das weitere Verfahren Rechtssätze aufgestellt, die „Licht in das Dunkel des heutigen Tiroler Agrarstreits“ bringen würden. Als wichtigsten Kernsatz strich der Verfassungsgerichtshof im „Unterlangkampfen-Erkenntnis“ vom 10. Dezember 2010 hervor, dass der Begriff „Gemeindegut“ bzw. „Fraktionsgut“ im Tiroler Flurverfassungsrecht im Sinn von „Eigentum einer Agrargemeinschaft“ verwendet wurde. Der VfGH: „… der Bescheid könnte durchaus auch dahin ausgelegt werden, dass die bescheiderlassende Behörde auf den in § 36 Abs. 2 lit. des Flurverfassungslandesgesetzes vom 6. Juni 1935, LGBl. Nr. 42, angeführten Begriff ‚Gemeindegut‘ im Sinne von ‚Eigentum der Agrargemeinschaft‘ abstellte (vgl. hiezu Öhlinger, Das Gemeindegut in der Judikatur des VfGH, in: Kohl/Oberhofer/Pernthaler [Hrsg], Die Agrargemeinschaften in Tirol, 250f)“. Univ.-Prof. Dr. Theo Öhlinger hatte sich an der zitierten Stelle ausführlich damit auseinandergesetzt, welche Rechtsfolgen sich aus dem Umstand ergeben, dass der Begriff „Gemeindegut“ im Flurverfassungsrecht über viele Jahrzehnte im Sinn von „Eigentum einer Agrargemeinschaft“ gebraucht wurde. Er stellte klar, dass es jeder juristischen Sorgfalt und Genauigkeit widersprechen würde, wenn man dem Begriff „Gemeindegut“ in einem historischen Bescheid heute einen anderen Inhalt gibt als vom historischen Tiroler Flurverfassungsrecht vorausgesetzt.

Anlass für die ausführliche Auseinandersetzung des Verfas­sungsgerichtshofes mit dem historischen Gemeinde­gutsbegriff war die Begründung des Landesagrarsenats vom April 2010 für ein atypisches Gemeindegut bei Agrargemeinschaft Unterlangkampfen. Ein „atypisches Gemeindegut“ wurde angenommen, weil die Agrarbehörde im Regulierungsverfahren 1949 von einem „Fraktionsgut“ (= „Gemeindegut“) ausgegangen war. Vom historischen „Fraktionsgut“ wurde auf ein historisches Gut im Eigentum der Ortsgemeinde geschlossen. Laut VfGH war das ein Trugschluss, weil dieser Begriff im historischen Agrarrecht eben ein Gut im Eigentum der Agrargemeinschaft bezeichnete. Als zweiten Kernsatz strich der Verfassungsgerichtshof im „Unterlangkampfen-Erkenntnis“ heraus, dass bei der Beurteilung von „Gemeindegut“ vor allem die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt vor der Regulierung geprüft werden müssen. Der VfGH: Wenn die Agrargemeinschaft die behördliche Feststellung beantragt, ob bestimmte Grundstücke solche im Sinne des „Mieders-Erkenntnisses“ wären, so komme es in erster Linie auf die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Regulierung an. Die das „Mieders-Erkenntniss“ tragenden verfassungsrechtlichen Erwägungen haben nämlich die offenkundig verfassungswidrige Übertragung von Eigentum auf eine Agrargemeinschaft zum Ausgangspunkt. Der VfGH weiter: „Die Agrarbehörden sind bei Verfahren wie diesem mithin gehalten, die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Regulierung zu klären und dabei alle zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen.“ „Der Verfassungsgerichtshof tritt der beschwerdeführenden Agrargemeinschaft daher nicht schlechthin entgegen, wenn sie die Ansicht vertritt, dass die von ihr im Verfahren relevierten Urkunden – namentlich die Urkunde über die angebliche Verleihung des Heimweidegebiets an die ‚Gemeind und Nachbarschaft zu Unterlangkampfen‘ im Jahr 1670 und die der Grundbuchsanlegung zugrunde liegenden Urkunden – für die Beurteilung der Eigentumsfrage rechtliche Relevanz haben könnten.“ In derartigen Fällen sei allerdings zunächst zu prüfen, ob vor der Regulierung ein Erwerbsvorgang zugunsten der politischen Gemeinde stattgefunden habe.

Nur ein ehemaliges wahres Eigentum der Ortsgemeinde kann ein „atypisches Gemeindegut“ im Sinn des „Mieders-Erkenntnisses“ hervorbringen. Davon sind die Fälle zu unterscheiden, wo lediglich eine falsche Grundbuchseintragung vorlag. Last but not least erlaubte sich der Verfassungsgerichtshof den wichtigen Hinweis, dass ein historischer Grundbuchsstand nicht zwingend ein richtiger gewesen sein müsse. Der VfGH: „Weiters ist allerdings […] zu berücksichtigen, dass Grundbuchseintragungen unrichtig sein können, […] weswegen der Grundbuchsstand nicht zwingend die wahren Eigentumsverhältnisse wiedergeben muss.“ Bei der Prüfung der wahren rechtlichen Eigentumsverhältnisse ist deshalb eine mögliche Unrichtigkeit des Grundbuchs einzukalkulieren.

„NUMMERNSPIEL“ DES VWGH 

Ungeachtet der Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs im „Unterlangkampfen-Erkenntnis“ vom Dezember 2010 hat der Verwaltungsgerichtshof den Tiroler Agrargemeinschaften die Prüfung der wahren Eigentumsverhältnisse verweigert.

„Atypisches Gemeindegut“ gründe, so der Verwaltungsgerichtshof, auf einer „Qualifizierung durch die Agrarbehörde“. Die Substanz gebühre dem Staat, auch wenn die Ortsgemeinde nie eine wahre Eigentümerin gewesen sei. „Schwarzer Tag“ der Tiroler Agrargemeinschaften war der 30. Juni 2011. Der siebente Senat des Verwaltungsgerichtshofs entschied an diesem Tag in gut einem Dutzend von Einzelfällen folgende Rechtssätze: Es „erübrigt sich ein Eingehen auf sämtliche im vorliegenden Fall aufgeworfene rechtshistorische Fragestellungen. Darauf, ob die entscheidungswesentliche Feststellung im Bescheid vom 17. Juni 1949 zu Recht getroffen wurde, wie sich die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Forsteigentumsregulierung oder im Zeitpunkt der Grundbuchsanlegung gestalteten und wie gegebenenfalls die Rechtsnachfolge zu beurteilen wäre, kam es daher nicht an.“ (VwGH Zl 2010/07/0075 Agrargemeinschaft Unterlangkampfen) Im Klartext: Der Verwaltungsgerichtshof stellte sich auf den Standpunkt, dass ein „atypisches Gemeindegut“ auch dann vorliegen könne, wenn das Regulierungsgebiet nie ein wahres Eigentum der Ortsgemeinde gewesen sei. Wer zur Zeit der Tiroler Forstregulierung 1847 oder bei der Tiroler Grundbuchanlegung um 1900 Eigentümer war und wer allenfalls später das Eigentum erworben hat, sei ohne Bedeutung. Alle Einwände der Agrargemeinschaft Unterlangkampfen, wonach die Ortsgemeinde Langkampfen das Eigentum nie erworben hatte, seien deshalb nicht zu prüfen.

„Wer Eigentümer war oder das Eigentum erworben hatte, ist ohne Relevanz!“ – so die Botschaft des Verwaltungsgerichtshofs. Und nach dieser Vorgabe, die allem widerspricht, was der Ver­fassungsgerichtshof im „Unterlangkampfen-Erkenntnis“ vom

10. Dezember 2010 entschieden hat, hat der Tiroler Landesagrarsenat rund 250 Tiroler Agrargemeinschaften als „atypisches Gemeindegut“ beurteilt. Nach dieser Vorgabe werden geschätzt 15.000 Tiroler Agrargemeinschaftsmitglieder um ihre Anteile an der Substanz dieser Liegenschaften gebracht. Der Tiroler Landesagrarsenat am 15. September 2011, Agrargemeinschaft Sellrain: „Angesichts der im Regulierungsverfahren rechtskräftig getroffenen Grund­stücksqualifizierung als Gemeindegut, wurde verbindlich entschieden, dass das Regulierungsgebiet Eigentum der Ortsge­meinde war. „Insbesondere kommt es gegenständlich auf die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Tiroler Forstregulierung 1847 oder im Zeitpunkt der Grundbuchanlegung gar nicht entscheidend an, genauso wenig auf die Frage, wie gegebenenfalls die Rechtsnachfolge zu beurteilen wäre“. Tiroler Landesagrarsenat
12. Jänner 2012 Agrargemeinschaft Oberpinswang: „Angesichts der im Regulierungsverfahren rechtskräftig und mit Bindungswirkung für die Zukunft getroffenen Grundstücksqualifizierung nach § 36 Abs. 2 lit. d TFLG 1952 erübrigte sich ein Eingehen auf die im vorliegenden Fall von der Agrargemeinschaft aufgeworfenen rechtshistorischen Fragestellungen. […] insbesondere kommt es gegenständlich auf die Eigentumsverhältnisse im Zeitpunkt der Tiroler Forstregulierung 1847 oder im Zeitpunkt der Grundbuchanlegung gar nicht entscheidend an, genauso wenig auf die Frage, wie gegebenenfalls die Rechtsnachfolge zu beurteilen wäre.“ Tiroler Landesagrarsenat am 23. Februar 2012 Agrargemeinschaft Wenns: „Auf die Frage, wie sich die Eigen­tumsverhältnisse im Zeitpunkt der Tiroler Forstregulierung 1847 oder im Zeitpunkt der Grundbuchanlegung gestaltet haben, und wie die Rechtsnachfolge zu beurteilen wäre, kommt es nicht an, weil die Liegenschaften im Agrarbehördenverfahren als ein Gemeindegut nach Flurverfassungs-Landesgesetz 1952 beurteilt wurden. Damit wurde bindend entschieden, dass ehemaliges Eigentum der Ortsgemeinde vorgelegen hat“.

Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Tirolerinnen und Tiroler werden durch diese Judikatur um den Wert der Gemeinschaftsliegenschaften, um den gesamten Zugewinn aus Jahrzehnte langer Arbeit, um die Ersparnisse und alles Geschaffene enteignet. Dies aufgrund der Rechtsfiktion, wonach ein Regulierungsgebiet der Ortsgemeinde verfassungswidrig entzogen sei, wenn die historische Agrarbehörde ein „Gemeinde- oder Fraktionsgut“ angenommen habe. Ob und wie die Ortsgemeinde jemals ein wahres Eigentum erworben hat (Kauf, Tausch, Schenkung, Ersitzung usw.) wurde und wird entgegen den Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs im „Unterlangkampfen-Erkenntnis“ 2010 in keinem einzigen Fall korrekt geprüft.

MP